Bei der Premiere kristallisiere sich aber schnell heraus, dass dafür neben einem alten Mountainbike auch eine ordentliche Portion Mut benötigt wird. Bei dem neuen Festival ging es nicht allein um das Anschmachten von Ikonen, sondern auch um Rennsport auf den Original-Strecken der 1993er EM. Was so manchem Teilnehmer Angstschweiß und puddingweiche Knie bescherte.
Es war allerhöchste Zeit, dass es endlich ein großes Festival zum Huldigen der guten, alten Zeit für Mountainbiker gibt. Bei Rennrad-Fans erfreuen sich Vintage-Rennen wie das L’Eroica seit Jahren größter Beliebtheit. Die Zahl solcher Veranstaltungen wächst. Die MTB-Szene dagegen hatte derlei bisher nicht zu bieten, abgesehen von kleineren, lokalen Treffen. Für den Schweizer Alexander Beeler, Fahrrad-Ikonen-Sammler und Organisator eines Klassik-Straßenrennens, war der Zeitpunkt gekommen, ein großes, mehrtägiges Festival auf die Beine zu stellen. Schließlich, so formuliert er es, sei die Entwicklung der Mountainbike-Technik noch viel radikaler, prägender und spannender gewesen, als die Evolution des Rennrads.
Natürlich ist es Blödsinn, dass früher alles besser gewesen sein soll. Die technische Entwicklung des MTB ist der beste Beweis. Wenn es aber um große Gefühle versus schiere Leistung geht, so hat Vintage die Nase vorne: die größten Heldengeschichten, die gewaltigsten Errungenschaften, die verrücktesten Designs, die echtesten Freundschaften waren immer früher. Richtig schätzen lernt dies wohl erst, wer sich mit modernem Material bereits so richtig ausgetobt hat. Vintage bringt ein Stück Jugend zurück. Unbezahlbar. - Alexander Beeler, Organisator Vintage Bike Masters
Mit großer Spannung wurde nun also das groß angekündigte 1. Vintage Bike Maters erwartet. Mit dem Schweizer Kloster hatte Alexander Beeler eine perfekte Location gewählt. In dem beschaulichen Bergdorf unweit der Grenze zu Österreich hatte 1993 die EM stattgefunden, die als wichtiger Meilenstein der MTB-Geschichte gilt. Um das Festival nicht als pure Bikeporn-Messe stattfinden zu lassen, sondern um den Teilnehmern echtes Zeitreisen zu ermöglichen, waren die wichtigsten Eckpfeiler des dreitägigen Programms Rennen auf den Original-Strecken von damals: Downhill- und Cross Country-Race auf den 1993er EM-Pisten. Das alleine wäre schon spektakulär gewesen, schließlich ist die Sammlerszene eher für das Anschmachten von MTB-Reliquien bekannt als für Offroad-Action. Doch Beeler hatte noch ein Sahnehäubchen parat: Im Rahmen des Festivals sollte auch der sagenumwobene, irgendwann in den Nullerjahren eingestellte Langstrecken-Schocker Swiss Bike Masters exhumiert werden. Ganz, oder gar nicht. Macher Alexander Beeler hatte keine Kosten und Mühen gescheut, um der Klassik-Szene das perfektes Wochenende zu präsentieren. Gesamtbudget für das Event: 100.000 Schweizer Franken. Alles war perfekt organisiert. Nur eines ließ sich nicht planen: das Wetter.
Freitag, Tag 1: Downhill-Rennen. Die Wettervorsage hatte es schon Tage vorher erahnen lassen. Dennoch war es für die Teilnehmer und die Orga ein Schock, denn am Vortag war das Wetter noch hochsommerlich gewesen. Ein dunkles Wolkengebirge, aus dem 4 Grad kalter Dauerregen peitschte, hatte sich wie eine Glocke des Grauens über Klosters gestülpt. Aus dem erhofften Bildern mit glücklichen Zeitreisenden in schrill-bunten Neonklamotten würde nichts werden. Was schade war, denn schöne Fotos auf möglichst vielen Social Media-Kanälen wären für das weitere Ankurbeln der Veranstaltung essenziell wichtig. Der harte Kern der Angereisten ließ sich den Spaß aber nicht verderben und ging in einem Mix aus Vintage-Klamotten und Funktionskleidung an den Start. Die Strecke von der Bergstation Madrisa zeigte auf interessante Art, wie radikal sich der Sport im Laufe der Jahre gewandelt hat.
Wäre man die Strecke mit einem aktuellen Touren-Fully gefahren, hätte die Strecke kein bisschen für Angstgefühl gesorgt. Mit den alten Bikes aber wurde der nicht wirklich steile, wenig ruppige Trail aber zur Zitterpartie vom Allerfeinsten. Besonders für diejenigen, die nicht mit einem Fully mit Scheibenbremsen antraten. Und das waren die meisten. Das Gros fuhr Hardtails mit langen Vorbauten und Cantilever-Bremsen, die mit den Bedingungen heillos überfordert waren. Zugelassen waren Bikes bis Baujahr 1999. Zu der Zeit gab es schon brachiale Downhill-Maschinen, die Motocross-Boliden ähnlicher sahen als Mountainbikes. Da das klassische Beuteschema der Sammlerszene aber Hardtails der frühen Neunziger sind, waren beim Rennen vor allem filigrane Modelle jener Art vertreten. Verwegen sah das aus, wie die von Adrenalin durchpeitschten Piloten die steile Startpassage durchhoppelten. Einer durchbrach in der ersten Linkskurve direkt das Flatterband, weil die Bremsklötze trotz voll gezogener Bremshebel keinerlei Reibwirkung auf den Felgen erzielten. Einem anderen fiel der seitlich angesetzte Dämpfer von der homöopatisch dimensionierten AMP-Parallelogramm-Gabel ab.
Trotz der meteorologischen Horrorbedingungen hatten alle ihren Spaß. Das unbeschwerte Gefühl der Anfangszeit flackerte tatsächlich etwas auf. Wenn nur das Wetter besser gewesen wäre. Der Blick in die Wetter-App machte leider auch für den nächsten Tag wenig Hoffnung.
Lässig: Anwohner hatten für die Fahrer eine Verpflegungsstation aufgebaut, in der sich die durchnässten Biker zwischen den Läufen mit Kaffee und Kuchen stärken konnten. Eine nette Geste, die der Veranstaltung einen familiären Anstrich verpasste. Im Vorfeld hatte es in Klassik-Foren hitzige Diskussionen um die vermeintlich zu kommerzielle Ausrichtung des Vintage Bike Masters gegeben. Unter anderem, weil es keinen Camping-Wiese gab wie damals beim Swiss Bike Masters, sondern nur die Möglichkeit teurer Hotelübernachtungen. Angesichts des Regens waren aber die meisten aber nun froh, nicht im Zelt oder im Camper auf einer durchweichten Wiese versinken zu müssen.
Nach einem abschließenden Gruppenfoto ging es erst mal in die Unterkünfte zum Aufwärmen. Am Abend stand dann nur noch ein kleines Welcome-Treffen mit Siegerehrung an. Entspannt genießen konnte Orga-Chef Alexander Beeler die Zusammenkunft nicht. Der Wetterbericht kündigte für den nächsten Tag Schnee an. Die beiden langen Marathon-Strecken, das wurde nun klar, würden nicht in der geplanten Form befahrbar sein. Alles musste umgeplant werden. Routenführung, Streckenposten, Verpflegungsstationen. Ein irrer Stress.
Samstag, Tag 2: Marathon: Als der Swiss Bikes Masters 1994 das erste Mal ausgetragen wurde, hatte er sofort den Ruf als ultimative Härteprüfung weg. Neben dem Cristalp galt er fortan als härtestes Langstreckenbiest der Mountainbike-Szene. Kein Wunder: 120 Kilometer und 5000 Höhenmeter zermürben auch die Fittesten. Nach zahlreichen Austragungen verschwand der Marathon irgendwann in der Versenkung. Für diejenigen Teilnehmer, die den Mythos Swiss Bike Masters noch kennen, war das Revival nichts weniger als eine Sensation. Entsprechend groß war auch das Teilnehmer-Feld. Zumindest auf der kurzen Runde mit 30 Kilometern und 1300 Höhenmetern, denn die versprach dem Namen Joy Ride bei den Witterungsbedingungen noch am ehesten gerecht zu werden.
Wie auch schon beim Downhill war der Untergrund von vergleichsweise gnädiger Art. Die zwei langen, zähen Anstiege aber hatten es in sich. Die Teilnehmer gingen mit unterschiedlichem Temperament zu Werke. Während die einen im gemeinsamen Plausch über die Strecke cruisten, rangen die anderen mit straffer Kette und Blutgeschmack im Mund die Höhenmeter nieder. Nett waren die liebevoll betrieben Verpflegungsstationen, die zum Verweilen einluden und an denen es auch Cappuccino und leckere Backwaren gab. Spätestens jetzt wurde klar, welch großes Potential das Vintage Bike Masters hat. Aber auch, wie viel das Wetter damit zu tun hat.
Sonntag, Tag 3: Cross Country-Rennen. Sonne! Wärme! Blauer Himmel! Was das ein Traum, oder tatsächlich Wirklichkeit? Das plötzlich liebreizende Wetter war für Teilnehmer und Orga-Crew die reinste Erlösung, was man auch direkt an der Atmosphäre auf dem Festival-Gelände merkte. Alle waren bester Laune. Die Besitzer der auf Hochglanz gewienerten Ikonen, die ihre Bikes für den Concourse und die Wahl zum besten Klassiker drapierten. Die Herumschlendernden. Die Händler. Die bereits Umgezogenen, die dem Cross Country-Rennen entgegen fieberten. Und auch die Promis. Ex-Weltmeister Christoph Sauser war schon am Tag zuvor mit seinem Kaffee-Wagen dagewesen. Auch Ex-DH-Weltmeisterin Giovanna Bonazzi, Ex-CC-Weltmeisterin Silvia Fürst und Ex-Worldcup-Star Chantal Daucourt waren den zweiten Tag Teil des Festival. Nun stand auch MTB-Legende Mike THE BIKE Kluge sichtlich entzückt auf dem Gelände. Das Rennen könne er leider nicht mitfahren, entschuldigte er. Der Rücken zicke gerade etwas! Egal, mit dem Funkeln eines Enthusiasten in den Augen haute Mike dafür eine Story nach der anderen raus. Presseleute und Fans: Begeistert.
Wenn ich mir die Bikes hier so anschaue, dann geht mir vor allem eins durch den Kopf: Wir können echt froh sein, dass wir lebend aus der Zeit rausgekommen sind. Das Material war abenteuerlich. Einfach irre, mit was wir über die Rennstrecken geheizt sind. Wir waren Künstler, sonst hätten wir mit solchen Bikes gar nicht so fahren können. - Mike Kluge, Worldcup-Legende
Kurz vor 13:30 Uhr. Das schönste Bike des Festivals ist gekürt, jetzt geht es um die Pokale des Cross Country-Rennens. Die Startbox ist gut gefüllt. Fast alle haben sich in alte Klamotten gepellt. Es ist ein Fest für die Fotografen. Ganz vorne, in der ersten Startreihe, steht Ex-Weltmeister Christoph Sauser aufs Feinste herausgeputzt. Sauser zählt zu den großen Namen der MTB-Rennsport-Geschichte. Die EM 1993 war seine erste internationale Meisterschaft. Das Bike, mit dem er antritt, ist ein Specialized Stumpjumper von 1981. Serie Nummer 1, das erste Serien-MTB der Geschichte. Eine Leihgabe eines Klassiker-Sammlers.
Der Kurs beginnt überraschend zahm. Knapp zwei Kilometer lang zieht sich der Schotterweg in leichten Wellen durchs Tal, ehe eine scharfe Linkskurve die Hoffnung auf weiteres, ungestümes Dahinrasen abrupt beerdigt. Erst nur steil, dann wie eine Wand, bäumt sich der Weg zunächst kurvenlos vor dem geschockten Pulk auf, um schließlich in gefühlt endloses Zickzack überzugehen. Die anfängliche Raserei hatte den Beinen schon arg zugesetzt, doch nun flehen die von Laktat durchschabten Beine regelrecht nach Gnade. 300 Höhenmeter am Stück sind es. Eine grandiose Schinderei, die das Feld umgehend in seine Bestandteile zerlegt. Die auf vier Fahrer zusammengeschrumpfte Spitze bleibt zunächst relativ zusammen. Sauser ist natürlich dabei.
Nach drei Runden und 30 Kilometern mit zusammen 900 Höhenmetern kommen die Fahrer nach und nach ins Ziel gehechelt. Die Anstrengung ist allen anzusehen, doch den Eintreffenden strahlt die pure Glückseligkeit aus dem Gesicht. Auch Organisator Alexander Beeler wirkt erleichtert und befreit. Seine Vision vom Vintage Bike Masters ist zu Leben erweckt. 50.000 Schweizer Franken hat er aus eigener Tasche bezahlt, um das Event möglich zu machen. Wegen des miesen Wetters kamen weniger Teilnehmer und weniger Tagesbesucher. Er hat draufgelegt. Doch die Chancen stehen gut, dass es nächstes Jahr besser läuft und das Vintage Bike Masters zu einer festen Größe für Klassik-Begeisterte wird.
So entstehen Legenden. Grosse Abenteuer bei widrigsten Bedingungen mit rundum glücklichen Gesichtern. Eine Resonanz in sozialen Netzwerken, wie wir sie bei unseren anderen Events nicht ansatzweise erleben. Die Hälfte der Teilnehmer aus ganz Europa angereist. Echte Superstars mittendrin. Selbst unsere vielen jungen Helfer aus der Region spürten die Vibes und waren begeistert … und das will wirklich etwas heissen. Wir sehen sehr zuversichtlich auf die weitere Entwicklung dieses weltweit einzigartigen Anlasses. - Alexander Beeler, Organisator Vintage Bike Masters