Report SteilabfahrtenWarum lockt uns die Tiefe beim Freeride?

Dimitri Lehner

 · 07.06.2023

Biken, wo andere klettern: Danny MacAskill befährt die Felsen Dubh Slabs in Schottland.
Foto: Dave Mackison
Steil ist geil! Rausch der Tiefe. Risiko Steilabfahrt - es gibt Tausend Begriffe für diese Art Nervenkitzel. Aber Steilabfahrten beim Freeride erschrecken auch. Die Furcht nach vorne zu kippen, schnürt die Kehle zu, der Blick in die Tiefe lähmt. Wir müssen darüber sprechen. Am besten mit den erfahrensten Profis.

Was passiert bei einer Steilabfahrt?

Steilabfahrten faszinieren. “Jeder Sport, der mit Abfahrten zu tun hat, erzeugt diese Faszination”, sagt Freeride-Pionier Richie Schley. “Man will wissen, wer den steilsten Run hinbekommt. Ob beim Skifahren, Skateboarden, Wellenreiten oder eben Mountainbiken. Dafür musst du 100 Prozent entschlossen sein und auf einer feinen Linie tanzen.” Steilabfahrten schrecken besonders Mountainbike -Einsteiger.

Das Motto: Sieg oder Sarg

Einen Abhang hinunterzurollen, der unten einen weiten Auslauf hat, ist relativ easy zu schaffen und erzeugt dennoch einem heftigen Adrenalinschub – Fahrtechnik-Coach Holger Meyer

Sprich: die Steilabfahrt als schnell erlebbare Sensation. Tatsächlich erfordern Steilabfahrten, zumindest wie sie regelmäßig im Gelände vorkommen, erstaunlich wenig Skills. Der Biker muss dosiert bremsen können, benötigt Balance, doch in erster Linie Mut, denn der Blick nach unten schüchtert ein, ebenso die Tatsache, dass er eine Steilabfahrt bis zum Ende durchziehen muss, “Do or don’t” – aussteigen geht nicht.

Steilabfahrt - das passiert im Körper

Die Risikosituation “Steilabfahrt” versetzt den Biker in Alarmbereitschaft. Die körpereigene 112 heißt Hypothalamus, eine weintraubengroße Gewebestruktur im Gehirn. Der Hypothalamus signalisiert dem Körper durch Botenstoffe: fertig machen zum Einsatz! Folgende Mechanismen werden ausgelöst:

  1. Erhöhung der Herzfrequenz: Um den Körper auf den Kampf- oder Fluchtmodus vorzubereiten, erhöht sich die Herzfrequenz. Dadurch werden mehr Sauerstoff und Nährstoffe zu den Muskeln transportiert.
  2. Erhöhung der Atmung: Die Atmung wird schneller und tiefer, um mehr Sauerstoff aufzunehmen und Kohlendioxid abzugeben.
  3. Erhöhung des Blutdrucks: Der Blutdruck steigt, um das Blut schneller zu den wichtigen Organen und Muskeln zu befördern.
  4. Veränderung der Verdauungsfunktion: In Risikosituationen wird die Verdauungsfunktion gedrosselt, um Energie für die körperliche Anstrengung bereitzustellen.
  5. Ausschüttung von Adrenalin: Der Körper schüttet Adrenalin aus, um die körperliche Leistungsfähigkeit zu steigern und die Reaktionszeit zu verkürzen.
  6. Verengung der Pupillen: Die Pupillen verengen sich, um das Sehvermögen zu verbessern und das Eindringen von zu viel Licht zu reduzieren.

Wer die Angst überwunden und die Herausforderung gemeistert hat, kriegt von der Biologie ein Geschenk: den Neurotransmitter Dopamin. Dopamin löst Glücksgefühle aus. Der Neurologe Professor Dr. Stefan Lorenzl präzisiert: “Adrenalin und Serotonin gibt’s vor und während der Abfahrt, Dopamin danach. Diese Stoffe machen uns glücklich und lassen uns Risiken eingehen.” Psychologen sprechen hier vom Odysseus-Faktor: Durch den eigenen Willen gelingt es, Grenzen zu überschreiten und den Handlungsspielraum zu vergrößern – das wird belohnt. “Das Gefühl, das du nach einer haarigen Steilabfahrt erlebst, ist unglaublich”, bestätigt Rampage -Star Cam Zink, der kürzlich für einen Filmclip seines kanadischen Sponsors Devenci in British Columbia eine Serie von Steilabfahrten gewagt hat.

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Neben der Biochemie entfaltet auch die Klarheit der Situation eine starke Wirkung: Da bist du und der Berg. Bist du bereit fürs Risiko, dann winkt das Erfolgserlebnis. Dieses Setup steht im krassen Gegensatz zum Alltag, der oft durch Langeweile (Routine) und Ohnmacht (Krieg, Klimawechsel, steigende Lebenskosten etc.) geprägt ist. Dennoch kommen laut Nachrichtenmagazin SPIEGEL nur fünf Prozent der deutschen Bevölkerung in die Nähe eines Thrills, wie ihn eine Steilabfahrt darstellt.

So begann die Faszination Steilabfahrt im Freeride

Als Freeriding Ende der 1990er -Jahre die Bike-Welt eroberte, waren es Steilabfahrten die Rad-Fans rund um den Globus zum Staunen brachten. Da kippten Dave Swetland, Brett Tippie, Wade Simmons oder Richie Schley in die Steilhänge von Kamloops, British Columbia. Zu sehen z. B. im Bike-Actionfilm Kranked.

Damals steckten die Freeride-Helden noch in Cross-Country-Outfits und fuhren Bikes mit irre steilen Lenkwinkeln, langen Vorbauten und unverschämt dünnen Reifen. Die ersten Freeride-Filme zeigten hauptsächlich Steilabfahrten und Stürze, in schnellen Schnitten, unterlegt mit Rockmusik. “So fing alles an”, erinnert sich Tarek Rasouli, einer der deutschen Freerider-Pioniere, “Biker bezwingt Berg. Ob auf Sandstein in Utah oder im Schotter in Kamloops – so was hatte man noch nicht gesehen und bis dahin für unmöglich gehalten. Und oft war es auch unmöglich”, sagt Rasouli.

“Damals musste man den Po maximal hinter den Sattel schieben, um nicht vorne überzukippen”, weiß Coach Holger Meyer, “heute ist die Position dank moderner Geometrien viel entspannter, man kann mittig über dem Bike bleiben und dennoch steil abfahren.” Besonders lange Steilabfahrten haben’s in sich. Oder wie Richie Schley es formuliert: “Steil ist nicht das Gleiche wie steil & lang.” Holger Meyer bestätigt: “Abfahrtenm, wie sie Remy Metailler und Cam Zink in British Columbia wagten, sind die hohe Schule und erfordern eine Menge Erfahrung und Fahrkönnen.” Zu sehen sind die Husarenstücke auf immernoch Youtube.

Wer ist der Krasseste?

“Manche behaupten, Steilabfahrten seien einfach”, sagt Cam Zink, “dem stimme ich nicht zu. Die Skills dazu besitzen zwar viele Rider. Doch es sich zuzutrauen und es tatsächlich zu machen, sind zwei völlig verschiedene Dinge. Noch krasser: Wenn du der Erste bist und gar nicht weißt, ob es überhaupt möglich ist! PEF hat das große Ding 2017 als Erster gemacht, also: He is the Man!”, sagt Cam Zink über Pierre-Edouard Ferry, der die steilste Abfahrt in der Geschichte der Red Bull Rampage wagte. Im Wettkampf fuhren auch Zink und Kyle Strait diese Line. Sie zählt zu den spektakulärsten Steilabfahrten. “In Wirklichkeit sind diese Abfahrten noch steiler als es Filmübertragungen oder Fotos vermuten lassen”, weiß Holger Meyer, der viele der Orte selbst kennt. Zink, Lunn, Simmons, PEF, Schley, Smith… die Liste der Steilwandfahrer ist lang. “Die einzigen beiden Fahrer, die eine steile Line gefahren sind, die ich verweigerte, waren: James Doerfling und Robbie Bourdon”, sagt Cam Zink und bringt seine Favoriten ins Spiel.

Für Freeride-Profis Brett Tippie und Richie Schley ist die Leiterabfahrt von Jordie Lunn die Nummer 1 unter den steilsten Abfahrten, doch auch Runs von Wade Simmons in Squamish zählen zu den Favoriten. Besonders eindrucksvoll ist die Abfahrt in Moab, Utah, die Kenny Smith zum ersten Mal befahren hatte, später wiederholten Richie Schley und Brett Tippie den Run, kürzlich Kilian Bron. Zwar bietet der raue Sandstein den Reifen viel Grip, doch der Anblick beeindruckt. An beiden Seiten der Klippe droht Absturzgefahr, und die schiere Länge der Abfahrt lässt ahnen, welche Nervenzerreißprobe die Biker hier aushalten müssen.

Die Lunn-Leiter: Senkrecht in die Tiefe: Für sein Video-Clip Rough AF3 baut sich Freerider Jordie Lunn diesen Horror-Stunt.Foto: Margus RigaDie Lunn-Leiter: Senkrecht in die Tiefe: Für sein Video-Clip Rough AF3 baut sich Freerider Jordie Lunn diesen Horror-Stunt.

Die krassesten Freeride-Steilabfahrten

1 - Die Lunn-Leiter:

Die verrückte Baumabfahrt von Freerider Jordie Lunn (siehe Foto oben) macht die Gefahren einer Steilabfahrt besonders plastisch.

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2 - Rampage-Steilwand:

2017 bauten sich die Rider Ferry, Strait und Zink eine haarsträubende Ouvertüre zu ihren Wettkampf-Runs. Die Abfahrt ist sehr steil und gleichzeitig: sehr lang.

bike/grusel-6_0ec1d22d927a5749875d3e0b86536f9dRed Bull Rampage 2017Foto: Bartek Wolinski / Red Bull Content PoolRed Bull Rampage 2017

3 - Moab-Klippe:

Kenny Smith war der Erste, dann kamen Brett Tippie, Richie Schley und später Kilian Bron. Hilfreich: der griffigen Fels und ein langer Runout.

bike/grusel-3_b2806b467ff35b158c3c1cfd848a1c25Die Moab-KlippeFoto: Ale di LulloDie Moab-Klippe

“Mehr als nur Mut!” - Interview mit Profi-Freerider Pierre-Edouard Ferry

FREERIDE: Pierre-Edouard, Du warst der Erste, der sich die Steilwand-Line bei der Rampage getraut hat.

PEF … die Line, die später in die Freeride -Geschichte einging als steilste Line der Red Bull Rampage. Ja, genau, ich war der Erste, der sie versucht hat.

Warum hast gerade Du diesen Stunt als Erster gewagt?

Weil ich drei Tage damit verbrachte, an einem Seil zu baumeln, um die Line überhaupt fahrbar zu machen. Ich musste die Anfahrt präparieren, damit man nicht gleich schon oben auf der Klippe stürzen würde. Das Seil sicherte mich vorm Abstürzen. Drei Tage sind eine lange Zeit. Da konnte ich mir viele Gedanken machen. Auch nachts konnte ich kaum schlafen, weil ich drüber nachdenken musste, wie ich diese Steilwand am besten angehen sollte. Und irgendwann war ich ready. Dann war Go-Time.

Profi-Freerider Pierre-Edouard FerryFoto: Garth Milan, Red Bull Content PoolProfi-Freerider Pierre-Edouard Ferry

Woher wusstest Du, ob diese Steilabfahrt überhaupt möglich war?

Das wusste ich nicht. Ich vermutete es. Zu 75 Prozent war ich überzeugt, dass es funktionieren könnte, der Rest war raten. Die Abfahrt war 63 Grad steil.

Was macht Dich zum Steilwandfahrer?

Erfahrung. Ich liebe Steilabfahrten und trainiere sie ständig. Das kann man nicht einfach so, das musst du üben. Willst du einen fetten Sprung machen wie bei der FEST-Serie, kannst du einem anderen Fahrer folgen – er “zieht dich” über den Sprung – und ist eine enorme Hilfe. Bei Steilabfahrten geht das nicht. Da musst du selbst entscheiden, blitzschnell reagieren und im kritischen Moment genau das Richtige machen. Denn einmal eingebogen, gibt es kein Zurück mehr.

Wie viel Prozent sind Skill, wie viel Mut?

70 Prozent Skill, 30 Prozent Mut. Zumindest bei solchen Nummern wie die Steilabfahrt bei der Rampage 2017. Stürzen geht da nicht, denn du fliegst den ganzen Berg runter und crashst in die Felsbrocken weiter unten. Als Cam Zink die Line schließlich wagte, war er danach irre erleichtert und stoked. Selten habe ich Zink so euphorisch erlebt. So weit ich weiß, hat außer Kyle Strait, Cam Zink und mir keiner diese Line wiederholt. Da sieht man, dass Mut alleine reicht. Bestes Beispiel: Nico Vink – offensichtlich einer der mutigsten Freerider überhaupt. 2015 suchte er sich bei der Rampage eine Steilabfahrt in diesem Format und stürzte schwer.

Mehr Fallen als Fahren: Pierre-Edouard Ferry wagt die steilste Abfahrt in der Geschichte der Red Bull Rampage mit gemessenen 63 Grad Gefälle.Foto: Christian PondellaMehr Fallen als Fahren: Pierre-Edouard Ferry wagt die steilste Abfahrt in der Geschichte der Red Bull Rampage mit gemessenen 63 Grad Gefälle.

Meinungen zur Faszination Steilabfahrt

Stefan Herrmann, Fahrtechnik-Coach:

Ich bin kein Fan von Steilabfahrten. All die schöne Energie, die man für Sprünge oder Kurven nutzen könnte, verpuffen im Geraderunterfahren. Das Risiko ist unverhältnismäßig hoch bei wenig Sensation. Wer’s geil findet, bitte schön!
Stefan Herrmann, Fahrtechnik-CoachFoto: Markus Greber/SkyshotStefan Herrmann, Fahrtechnik-Coach

Brett Tippie, Freeride-Pionier:

Steilabfahrten sind meine Spezialität. Als ehemaliger Snowboard-Profi teste ich im Winter meine Grenzen auf dem Board, im Sommer auf dem Bike und checke, wie reißfest mein Nervenkostüm ist. Mit Steilabfahrten ging’s im Freeriden los. Die Faszination ist bis heute geblieben.
Brett Tippie, Freeride-PionierFoto: Dylan SherrardBrett Tippie, Freeride-Pionier

Brage Vestavik, Vollgas-Freerider:

Steilabfahrten begeistern mich. Das Gefühl, nicht wirklich die Kontrolle zu haben, ist irre. Und die Tatsache, dass du den Run durchziehen musst, was immer auch passiert. Mich beeindruckt James Doerfling. Er ist auf verrückten Lines abgefahren. Und natürlich die legendäre Leiter von Jordie Lunn.
Brage Vestavik, Vollgas-FreeriderFoto: Red Bull Content PoolBrage Vestavik, Vollgas-Freerider

Holger Meyer, Fahrtechnik-Coach:

Mich reizen Steilabfahrten, ob mit dem Bike oder auf Skiern. So richtig steil, ist geil. Die Letzte erlebte ich im Bikepark Bernex. So steil, dass ich kaum glauben konnte, dass es möglich ist.
Holger Meyer, Fahrtechnik-CoachFoto: Christoph MargotHolger Meyer, Fahrtechnik-Coach

Cam Zink, Freeride-Hero:

Steilabfahrten sind eine ganz andere Art von Spaß. Irgendwie unbeschreiblich. Entweder sie sind wirklich einfach, oder man ist komplett am Arsch. Ich bin in einige geraten, die einfach aussahen, und dann wurde ich fertiggemacht. Je nervöser du davor warst, desto geiler das Gefühl danach.
Cam Zink, Freeride-HeroFoto: Monster EnergyCam Zink, Freeride-Hero

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