Radfahren ist für mich Meditation. Abschalten. Digitaler Detox. Endlich mal kein Wortgedusche, Bildschirmgeflimmere, keine To-Do-Listen und nichts von dem Multitasking-Mist, der den Alltag zerfasert und das Hirn aufweicht.
Radfahren ist für mich auch akustischer Detox, deswegen fahre ich ohne Musik im Ohr. Ich will nichts hören – außer Mönchsgrasmücke und Feldlerche, das leise Fauchen meiner Carbonlaufräder und das Rauschen des Fahrtwinds in den Ohren. Am liebsten würde ich die Augen schließen und dabei tief einatmen und ausatmen.
Deswegen liebe ich Gravelbikes: Abbiegen in den Wald und den Forstweg nehmen, statt die Rennrad-Promenade. Alles paletti, will man meinen, doch irgendwann ist jeder Forstweg zu Ende und ich muss da fahren, wo alle fahren.
Dort lauern sie auf mich. Denn kaum ist der Lenker ein bisschen nach außen gebogen und die Reifen etwas dicker, schon gehört man zu einer verschworenen Gemeinschaft.
Sprich: Man grüßt sich. Die Finger auf dem Bremssockel klappen beim „Fly-by“ nach außen. Oder zumindest ein Finger: Graveller grüßt Graveller.
Und damit beginnt der Stress, denn ich bin harmoniebedürftig. Einen Gruß nicht zu erwidern, ist ein Schlag vor den Kopf. Das ist arschig. Arrogant. Geht gar nicht. Es killt den Vibe. Und das Karma. Aus Aura 2000 wird Aura Zero. Das gilt für beide Seiten. Grüßt du und wirst nicht zurück gegrüßt, ist das ein Stimmungsdämpfer. Punkt. Doch grüßt der Gegenverkehr und du kriegst deine Finger nicht schnell genug nach außen gereckt, fühlst du dich genauso mies, denn du willst kein Arschloch sein.
Muss dieser Gruß denn sein? Auf Sandwegen in der Mongolei oder Schotterpisten in der Atacama-Wüste würde ich mir das noch eingehen lassen, doch in München-Fürstenried? Im Ernst?
Für mich ist das Grüßen unter Radfahrenden eine nette Geste; ein kleiner Lichtblick in all dem Gegeneinander in unserer Gesellschaft. Dass wir beste Freunde sind, sagt es noch lange nicht. - Sandra Schuberth, BIKE-Redakteurin
Was soll ich tun? Alle grüßen, ungeachtet, ob es auf Gegenliebe trifft oder nicht? Oder nur Grüße erwidern? Doch die kommen oft im letzten Augenblick oder sind kaum zu erkennen. Statt frei und beschwingt dahinzugleiten, mustere ich die entgegenkommenden Radler – mehr noch: Ich scanne! Denn: Ich muss erkennen, ob Rennrad oder Graveller, Lenker-Flare oder keiner? Die Schmach wäre niederschmetternd, wenn ich aus Versehen einen „Roady“ grüße, der den Gruß nicht erwidert. Die Schmalspur-Fraktion schaut auf uns Graveller herab, als seien wir Rollerblader, Liegeradfahrer, verkappte Mountainbiker. Oder willenlose Mode-Opfer, die nur graveln, weil’s hip ist.
Nein, alle grüßen ist keine Lösung. Also grinse ich als Alternative zum Gruß-Terror. Ich grinse und hoffe, dass das als Pauschal-Gruß durchgeht. Aber die Grinse-Nummer wirkt etwas debil.
Deswegen gehe ich in den Wiegetritt, wenn mir jemand entgegenkommt. Wer sprintet, kann nicht grüßen – das versteht jeder. Doch Dauersprinten ist zu anstrengend. Meine nächste Strategie: nicht mehr grüßen. Scheiß auf die Harmonie. Was soll die Gruß-Manie?! Wie in den 1980ern, als jeder, der ein Windsurfboard auf dem Autodach hatte, auf die Lichthupe drückte, sah er einen anderen Windsurfer. Irgendwann gab’s in jedem dritten deutschen Haushalt ein Windsurfboard und das Lichtgeblitze auf deutschen Straßen hörte wieder auf. Nur die Motorradfahrer grüßen noch immer – und noch penetranter. Damals als Motorradfahrer beschloss ich: Die Hände bleiben am Lenker meiner Yamaha. Das Argument: Safety first! Die Graveller-Hände greifen aber wie Zangen den Bremssockel und die Finger lassen sich deshalb gefahrlos aufklappen. Man muss den Arm gar nicht zur Seite strecken wie beim Motorrad-Grüßen. Egal. Mein Entschluss steht fest: Keine Grüße mehr!
Problem gelöst? Nein. Da rauscht mir kürzlich doch tatsächlich ein Gravel-Schneewittchen entgegen, mit Strahle-Lächeln unter schicker XXL-Brille. Die Schönheit streckte mir die schmalen Finger entgegen. Und schon schnellten meine Finger, ob ich wollte oder nicht, zum Graveller-Gruß nach außen. Oh nein, Freunde, ihr seht: Der Stress geht weiter!
Daher erhört meine Bitte: Können wir nicht alle auf einmal aufhören mit dem dämlichen Brauch?
Mein Appell: Grüß mich nicht, ich grüß dich nicht!