Tim Farin
· 08.09.2024
Als Rosa Klöser auf die gut 450 Meter lange Zielgerade in Emporia, Kansas, einbiegt, fühlt sie bemerkenswerte Klarheit in ihrem Kopf. „Ich war ungewöhnlich ruhig. Normalerweise bin ich eher ein quirliger Typ, aber in diesem Moment war ich sehr überlegt“, berichtet sie. Die aus Deutschland stammende, 27-jährige Fahrerin, deren Namen hier kaum jemand kennt, hat die Zielgerade genau analysiert und die Interessen der Gruppe studiert, mit der sie ins Ziel der 200 Meilen des Unbound Gravel rast.
Links in der neunköpfigen Spitzengruppe startet die amerikanische Konkurrentin Paige Onweller ihren Vorstoß – daraufhin tritt Rosa Klöser an. „Ich dachte, wir wären schon näher am Ziel“, erinnert sie sich und startet ihren Sprint bereits 300 Meter vor der Ziellinie. Sie zieht ihn einfach durch. „Man spürt, ob jemand hinter einem ist, und auf den letzten 100 Metern merkte ich, dass niemand mehr da war.“
Klöser sprintet mit mehreren Radlängen Vorsprung ins Ziel. Mit weit aufgerissenem Mund folgt ein emotionaler Zusammenbruch im Zielbereich: Sie fällt ihrem Freund um den Hals, der selbst gerade erst das Männerrennen beendet hat. Sie ist überwältigt, Tränen rinnen ihr über das Gesicht. Aus dem Nichts kommend, hat sie nicht nur einen herben Rückschlag im Rennen überwunden, sondern auch das prestigeträchtigste Rennen der Gravel-Szene gewonnen.
Bereits einen halben Tag früher, am Morgen kurz vor 6 Uhr, fühlt sich Klöser zum ersten Mal wirklich überwältigt. „Da waren bestimmt 100 Fotografen vor der Startlinie, das war ein richtiger Medien-Hype“, erzählt sie. „Ich dachte, dieses Event – das kann wirklich dein Leben verändern.“ Kaum jemand in der Szene oder in den Medien kennt die junge Deutsche, die als Wohnort Kopenhagen angegeben hat. Sie stellt sich zwischen die Elite-Starterinnen, die in Kansas eine eigene Frauen-Startzeit bekommen haben, um ein richtiges Frauenrennen ohne den verzerrenden Effekt der Männer davor und dahinter zu haben.
Während große Namen aufgerufen werden – Tiffany Cromwell, Sofia Gomez Villafane, Haley Smith und die Vorjahressiegerin Carolin Schiff im Trikot der Deutschen Meisterin – erinnert sich Rosa Maria Klöser daran, dass sie 2023 gerade erst ein paar Gravel-Rennen ausprobiert hatte. Und noch ein Jahr zuvor, Anfang 2022, hatte die junge Frau mit den langen, dunkelbraunen Haaren noch nie an einem Radrennen teilgenommen.
Rosa Maria Klösers Karriere nimmt rasant Fahrt auf. Geboren in Übach-Palenberg bei Aachen, studierte sie in den Niederlanden und Dänemark. An einem Montag im Juli erholt sie sich im Haus der Eltern ihres Freundes am Rande der Lüneburger Heide. Normalerweise forscht und lehrt sie in Kopenhagen, nimmt an Konferenzen in Dublin teil, verbringt vier Monate am Massachusetts Institute of Technology in Boston und erlebt nun einen beeindruckenden Aufstieg im Radsport. Dies ist die Geschichte einer Frau, die in wirtschaftswissenschaftlichen Studien Top-Noten erzielt, über politische Interventionen in Märkten doziert und erfahrene Straßenprofis in die Schranken weist. „Ich kenne sie nicht“, sagt eine Top-Gravel-Fahrerin, obwohl sie schon mehrmals gegeneinander gefahren sind. Eine Geschichte, die im Frauen-Radsport noch möglich ist.
Rosa Maria Klöser wurde am 24. Juni 1996 in Geilenkirchen, Nordrhein-Westfalen, geboren. Während ihres Promotionsstudiums an der Copenhagen Business School begann sie gemeinsam mit ihrem Lebensgefährten Paul Sandmann mit dem Radsport.
In ihrer ersten Gravel-Saison erreichte Klöser dreimal den dritten Platz bei Rennen des Weltverbands UCI und belegte bei der WM 2023 in Italien den 28. Platz. 2024 erzielte sie den dritten Rang beim Traka 200 in Spanien, den zweiten Platz bei 3RIDES in Aachen und gewann das Unbound 200 in den USA. Im Juni nahm sie erstmals an der Deutschen Straßenmeisterschaft teil und wurde Neunte.
Was wie ein reibungsloser Aufstieg klingt, verlief in der Praxis nicht ohne Hindernisse. Manchmal ging ein Fahrrad verloren, manchmal kam es zu blutigen Unfällen. Doch das schreckt sie nicht ab. Auch schmerzhafte Erfahrungen halten sie nicht zurück. Sie beißt sich durch und gibt zu, dass sie vielleicht etwas forscher ist als andere. In der kurzen Zeit, die sie im Sattel verbracht hat, hat sie bereits einige Narben gesammelt. Am Wochenende vor diesem Interview unterschätzte sie bei einem Rennen in Polen ein Grasstück und verletzte sich dabei am Bein und Ellenbogen, auch ihr Helm trug Dellen davon. Auf der Straße brach sie sich das Schlüsselbein und bei ihrem ersten großen Gravel-Rennen, dem Traka in den Pyrenäen, erreichte sie das Ziel ohne Sattel. Aber sie kam durch.
Klöser ist zielstrebig und weiß, wie man mit Rückschlägen umgeht. Das hat sie beim Unbound Gravel eindrucksvoll bewiesen. Nachdem sie sich in der Spitzengruppe festgesetzt hatte, beging sie in Kansas einen Fahrfehler. Sie erinnerte sich daran, dass sie zu nah an der Vorderfrau gefahren sei und dadurch nach etwa 200 Kilometern einen Stein übersehen habe – ein Verhängnis für ihren Vorderreifen, der an mehreren Stellen eingerissen wurde. Dank ihrer guten Vorbereitung hatte Klöser Inserts in den Reifen, die die Felge beim Platten schützten. So konnte sie sich zunächst in der Spitzengruppe halten. „Das war richtig schwammig, vor allem bergab auf Steinen bin ich immer wieder auf die Felge durchgeschlagen, das war gruselig“, erzählt sie.
An einem Anstieg beschloss Klöser, es noch einmal mit Luft aus einer Kartusche zu versuchen. An eine Reparatur des Reifens war nicht zu denken, da an mehreren Stellen Dichtmilch austrat. Bis zur nächsten Verpflegungsstelle verlor sie dadurch zwei Minuten auf das Vorderfeld. Doch ein blitzschneller Radwechsel ihres Ausstatters ermöglichte ihr die Rückkehr in den Wettkampf.
Dann bin ich losgefahren und wusste, ich habe nichts zu verlieren. Ich war stolz darauf, zuvor in dieser Spitzengruppe gewesen zu sein, und dachte: Egal, was jetzt passiert, du hast es der Welt gezeigt.
Solche Erlebnisse wären für Rosa Maria Klöser vor vier Jahren unvorstellbar gewesen. Damals studierte ihr Freund bereits in London, während sie für ihr wirtschaftswissenschaftliches Studium in Kopenhagen war. Aufgrund der Corona-Lockdowns suchten sie einen Ort, um gemeinsam Zeit zu verbringen. Die Eltern von Paul Sandmann leben in Niedersachsen, südöstlich von Hamburg, und dort nistete sich das Paar ein. Rosa machte ihre ersten Erfahrungen auf einem viel zu großen Rennrad mit 61er-Rahmen, das dem Vater ihres Freundes gehörte. Das Rennradfahren gefiel ihr sofort. „Der wahre Grund, warum ich mir dann ein Rennrad gekauft habe, war allerdings ein Fahrraddiebstahl“, erzählt Klöser.
In Kopenhagen wurde ihr Stadtrad gestohlen, und sie nahm sich ein Beispiel an den vielen Pendlern, die dort mit Rennrädern unterwegs sind. Also suchte sie nach einem Einsteigerrad, das 1200 Euro kostete. „Das kam mir wahnsinnig teuer vor“, sagt sie. Schon bald merkte sie bei Ausfahrten in Kopenhagen, dass dieser Sport „kapitalintensiv“ ist, wie sie es nennt. Es folgte ein Crashkurs in einem Sport, den andere seit ihren Teenagerjahren betreiben. Sie installierte Strava und jagte nach Bestzeiten. Zudem kaufte sie sich eine smarte Rolle und trainierte auch drinnen. Anfang 2021 nahm sie in ihrem Kopenhagener Studentenzimmer an ihrem ersten Zwift-Rennen teil. „Vorher bin ich noch nie mit anderen Frauen gefahren. Es waren zwar nur fünf oder sechs Teilnehmerinnen – aber ich habe gewonnen. Und wenn ich Erfolg habe, dann macht es natürlich noch mehr Spaß.“
In Kopenhagen wandte sie sich an einen Radklub und fand dort Orientierung beim Fahren in der Gruppe. 2022 nahm sie dann erstmals an einem Straßenrennen teil. Bei ihrem ersten Auftritt in der B-Kategorie holte sie sofort den Sieg. „Ich war völlig überrascht, denn ich hatte noch keinerlei Ahnung von Rennstrategie und Taktik“, erinnert sie sich. Im Spätsommer desselben Jahres startete sie gemeinsam mit ihrem Freund Paul bei den Cyclassics in Hamburg. Auf der 94,8-Kilometer-Runde siegte sie bei den Frauen und belegte insgesamt den 18. Platz. „Du hast dort viel Windschatten. Wenn du ein bisschen schlau fährst, kannst du extrem viel Energie sparen“, erklärt sie und macht ihren beeindruckenden Erfolg leicht verständlich.
Rosa Klöser liebt es, sich intensiv mit Themen auseinanderzusetzen, wie sie selbst sagt, und das teilt sie mit ihrem Freund Paul. Er promoviert am Imperial College im Fach Maschinenbau und hat die Wahl, ob seine Karriere in der Wissenschaft oder in einem Unternehmen weitergeht. Auch er begann erst mit Beginn der Corona-Pandemie mit dem Sport und erzielt mittlerweile hervorragende Ergebnisse bei Elite-Gravel-Rennen. Zwischen Forschung und Sport bleibt ihm kaum Zeit für anderes. Klöser studiert den Sport mit derselben Hingabe, mit der sie auch ihre akademischen und beruflichen Themen angeht. Sie schaut viele Rennen, darunter die Tour de France, um vom Verhalten der Fahrer zu lernen, und sammelt Informationen über Ausrüstung und Kohlenhydratkomplexe. Mit großer Sorgfalt und Beobachtungsgabe optimiert sie ihre Leistung. Zusammen mit Paul arbeitet sie an ihrer Sitzposition und analysiert ihre Wattwerte. „Bei Rosa geht noch einiges“, sagt ihr Freund. In den kommenden Monaten wollen sie an der Aerodynamik der Fahrerin arbeiten, darunter auch Windkanaltests.
Meine Passion ist es, mit Studenten zusammenzuarbeiten, Vorträge zu halten und Masterarbeiten zu betreuen.
Perfektionismus spielt in Rosa Klösers Leben eine große Rolle und erstreckt sich auf viele Bereiche. Als die beiden das Equipment unseres Fotografen sehen, stellen sie viele Fragen, da sie sich – als Teil des Sportlerdaseins im Influencer-Zeitalter – mit hochwertigen Kameras ausstatten möchten. Dass Klöser überhaupt im Gravel-Bereich fährt, war ein Zufall. Im Frühling 2022, bei einem Trip nach Girona, hatte sie Probleme mit der Schaltung ihres inzwischen erheblich teureren Aero-Bikes. Rosa und Paul gingen in eine Werkstatt und trafen dort den niederländischen Gravel-Profi Piotr Havik. Er lud sie zu einer Schottertour ein und war beeindruckt von Rosas Talent. Klöser erinnert sich an seine Worte: „Vielleicht überlegst du dir mal, Gravel-Profi zu werden.“
Ein Jahr später startete Klöser in ihre erste Saison auf Schotter. Bei drei UCI-Rennen schaffte sie es aufs Podium und wurde in Halmstad, Schweden, nur von den Radsportlegenden Marianne Vos und Annika Langvad geschlagen. „Da haben mich dann einige Marken kontaktiert und gesagt, sie finden es cool, was ich da mache.“ Eine Saison später hat Klöser deutliche Fortschritte gemacht. Sie ist so etwas wie eine Einzelunternehmerin im Gravel-Sport, hat namhafte Ausstatter und kann sich – besonders im Sommer – voll auf dieses Leben einlassen. Ihre Universität in Dänemark hat sie für einen Monat freigestellt, damit sie sich in der intensiven Phase auf die Gravel-Events konzentrieren kann, ohne an ihre akademischen Verpflichtungen denken zu müssen. Denn normalerweise ist das ihr Lebensmittelpunkt. Klöser hat einen erfolgreichen Weg durch die Hochschullandschaft hinter sich und promoviert zur Dekarbonisierung der Schifffahrtsindustrie. Dabei untersucht sie vor allem, wie politische Eingriffe in die Wirtschaft zu mehr Nachhaltigkeit und umweltfreundlicheren Unternehmensstrukturen führen können.
Zuvor hatte sie ihren Master im Bereich Supply Chain Management abgeschlossen. Im Gespräch wechselt sie schnell auf dieses andere Thema und könnte, wenn man ihr die Gelegenheit gibt, spontan eine Vorlesung darüber halten. Es wäre genauso spannend wie das Gespräch über den Sport. Besonders gefällt ihr, was sie als Teil ihrer Promotionsstelle tun darf: „Meine Leidenschaft ist es, mit Studierenden zusammenzuarbeiten, Vorträge zu halten und Masterarbeiten zu betreuen“, sagt Klöser.
Rosa Klöser bewegt sich also zwischen zwei Welten. Doch bei den Eltern ihres Freundes in Norddeutschland dreht sich derzeit alles um ihre sportliche Karriere. Sie genießt ihren neuen Ruhm und nutzt ihn für weitere Sponsorengespräche und Verhandlungen für das nächste Jahr. Auch bei der Deutschen Meisterschaft auf der Straße hat sie ein Zeichen gesetzt: Unter den World-Tour-Profis erreichte sie den neunten Platz. Für sie ist der Straßenradsport ebenso ein Zukunftsprojekt wie ihre berufliche Laufbahn in der Ökonomie. „Ja, auf jeden Fall“, antwortet sie auf die Frage, ob sie derzeit ihren Traum lebe. „Ich bin keinen klassischen Weg gegangen, ich dachte nicht schon als kleines Mädchen, dass ich Profisportlerin werden könnte – aber bei allem, was ich tue, bin ich immer total fokussiert auf die Sache.“
Anfang 2025 dürfte sie ihren Doktortitel in der Tasche haben. Ihr Forschungsthema begeistert sie sehr, was gut für die Zeit danach ist. Im Radsport kennt man nun ihren Namen, was vorteilhaft ist, denn ein paar Saisons möchte sie auf jeden Fall diesen Teil ihres Lebens in den Mittelpunkt stellen. „Das ist eine hervorragende Struktur für meine Karriere.“