Stephan Ottmar
· 12.07.2015
Mit dem Turbo Levo beschreitet die Entwicklungs-Crew von Specialized neues Terrain und stellt eine ganze Palette neuer E-Mountainbikes vor. Highlight ist das 140 mm Fully im B Plus-Format.
Die Geschwindigkeit, mit der die Radbranche ihre Innovationen und Trends abfeuert, sind kurz. Vor zwei Jahren hatte Specialized sich grob verschätzt und ließ den 27,5-Zoll-Zug teilnahmslos vorbeifahren – hastig zog man später nach.
Als im vergangenen Jahr noch immer kein Specialized-E-MTB in Sicht war, witterten Skeptiker bereits eine erneute Fehleinschätzung des europäischen Marktes seitens der Kalifornier. Durch den Launch des neuen Turbo Levo dürften diese Stimmen abrupt verstummen und manchen Mund vor Staunen offen stehen lassen. Die Entwicklungscrew um Jan Talavasek ist nicht einfach der Marktentwicklung gefolgt, sondern hat dickere Bretter gebohrt.
Bei den Antriebskomponenten stand ein Aspekt ganz oben auf der Anforderungsliste: Praxistauglichkeit. „Wir wollten ein Bike bauen, mit dem wir selbst gern auf den Trail gehen", erklärt Talavasek. Die Praxistauglichkeit des Systems geht so weit, dass die Elektronik bei Reinigung mittels Dampfstrahler keinen Schaden nimmt. Eine solche Aussage hörten wir bisher von keinem anderen E-MTB Hersteller. Akku, Elektronik, Steuerung und Software sind eigenentwickelt, lediglich die Brose-Motoreinheit ist ein Zukaufteil – allerdings mit angepasster Abstimmung. Ein Lenker-Display sucht man am Turbo Levo vergeblich – weil man es nicht braucht. Und falls man sich eines wünscht, liefert Specialized eine Reihe von Optionen. Dazu später mehr …
Um das Turbo Levo zu starten, genügt ein Druck auf den Einschaltknopf und los geht’s. Über das Bedienfeld am Akku stehen drei Unterstützungsstufen zur Wahl. Außerdem zeigen dort zehn Leuchtdioden den Füllstand des 504-Wattstunden-Akku an.
Bereits beim ersten Druck aufs Pedal unterstützt der Motor wirkungsvoll aber moderat, bis er irgendwo oberhalb von 25 km/h sanft ausblendet. Insgesamt fühlt sich die Steuerung sehr ausgewogen an. In Sachen Maximalpower gibt es jedoch stärkere Systeme. Interessante Erkenntnis: Im Trail ist die maximale Leistung nicht ausschlaggebend. In Steilstücken rutschte auf höchster Fahrstufe gelegentlich das Hinterrad auf nassen Wurzeln oder im losen Untergrund durch – die mittlere Fahrstufe vereinfachte die Kletterei. Übrigens: Steilstück bedeutet in diesem Fall eine Passage, bei der die wenigsten Biker überhaupt auf den Gedanken kommen, dass so etwas mit einem Mountainbike bergauf fahrbar sein könnte.
Fette Drei-Zöller drehen sich auf 27,5-Zoll-Felgen und erzeugen Traktion und Seitenhalt in einem Maß, dass die Grenzen der Physik verschoben scheinen. Für elektrounterstütze Mountainbikes sind solche Reifen eine hervorragende Wahl. Sie fahren sich fehlerverzeihend und komfortabel, den erhöhten Rollwiderstand spürt der Fahrer nicht. Die Kombination mit einem 140er-Fahrwerk erzeugt ein Fahrgefühl, das irgendwo im Enduro-Bereich zu Hause ist, aber so genau lässt sich das gar nicht sagen. Welche Anteile des Fahrwerks der Reifen liefert und was die Federgabel übernimmt, bleibt unklar. Klar ist nur: Die Reserven des Turbo Levo bergab sind enorm. Im Trail bleibt das Handling trotz des Gewichts von etwa 21 Kilo agil. Nach einer kurzen Gewöhnungsphase aktiviert das Hirn den E-Bike-Modus und reagiert auf die leicht veränderten Parameter. Aufgrund des tiefen Schwerpunkts überrollt das Bike Hindernisse entspannter als ein motorloses Mountainbike. Lediglich Manöver wie Bunny-Hop oder Umsetzen des Hinterrades verlangen nach sehr viel Nachdruck.
Die sportliche Tourengeometrie des Bikes lehnt sich an die unmotorisierten Specialized-Bikes an. Das Oberrohr ist relativ lang, die Kettenstreben recht kurz und das Tretlager sitzt tief.
Mit leuchtenden Augen beschreibt Jan Talavasek die hauseigene Mission Control App. Sie steht in wenigen Tagen kostenlos für iOS und Android-Geräte zum Download bereit. Und hier dürfte wohl das aktuell größte Alleinstellungsmerkmal von Specializeds E-Mountainbikes liegen: Die gesamte Kommunikation mit dem Smartphone erfolgt kabellos über Bluetooth. Über einen sogenannten Fake-Agent lässt sich das E-MTB über ANT-Standard mit zahlreichen Tachos, GPS-Geräten oder Fitnessuhren koppeln. Dort wird dann etwa der Ladezustand der Batterie statt des Pulswerts im Display angezeigt. Zur bestmöglichen Integration in Navigationsgeräte arbeitet Specialized eng mit Garmin zusammen.
Die App kann mehrere Bikes verwalten. Alle Fahrdaten können aufgezeichnet und ausgewertet werden, das gilt auch für die vom Fahrer eingespeiste Kraft. Eine Kraftmesskurbel ist folglich integriert. Zusätzlich lassen sich zahlreiche Einstellungen am Motor-Setup und den Funktionen vornehmen.
Die Navigation der Mission Control App basiert aktuell auf frei verfügbarem Kartenmaterial von Open-Street-Maps. Damit ist die Navigation auf Straßen und Forstwegen unkompliziert und sogar kostenlos. Offline-Karten kosten pro Land 0,99 Euro. An einer Trail-Version wird intensiv gearbeitet. Für Biker besonders interessant dürfte das Feature Smart Control sein: Über Schieberegler die gewünschte Fahrzeit oder Streckenlänge eingeben und festlegen, wie viel Prozent-Akkukapazität am Ende der Tour noch im Unterrohr gespeichert sein soll. Jetzt unterstützt der Motor den Biker im Automatik-Modus genau so stark, dass der Fahrer sein Ziel mit den gewählten Vorgaben erreicht.
In Zusammenarbeit mit der Online-Wettkampfplattform Strava wurde die neue Kategorie E-Bike eingeführt, damit die Teilehmer keine Rekordhalter muskelbetriebener Bikes entthronen. Wer möchte, kann nach dem Ride alles detailliert auswerten und analysieren.
Das Gesamtkonzept der frischen E-MTB-Generation überzeugt. Specialized gelingt es, den Motor so ins Bike zu integrieren, dass die Diskussion über Leistungsdaten und technische Kennzahlen vom Fahrspaß in den Hintergrund gedrängt wird. Die einfache Bedienbarkeit per App überzeugt und die Wahl der dicken 27,5-Plus-Pneus passt perfekt zum Specialized Turbo Levo.
BIKE: Ihr habt 2011 das 45 km/h-Pedelec Turbo S präsentiert. Warum hat es vier Jahre gedauert bis zum Turbo Levo?
Jan Talavasek: Zum einen mussten wir erst definieren, was ein E-Mountainbike für uns überhaupt ist. Wir haben dann schnell festgestellt, dass die existierenden Antriebe nicht zu unseren Ansprüchen passen. Und dann mussten wir die richtigen Partner finden, mit denen wir die Baugruppen entwickeln, die dann passen. Das kostete viel Zeit.
Was kann das Turbo Levo besser als andere Bikes?
Es hat eine ausgesprochene Trail-Geometrie und fährt sich so, wie sich ein Mountainbike fahren muss. Wir wollten kurze Kettenstreben, einen tiefen Schwerpunkt und clevere Detaillösungen, zum Beispiel einen absolut wackelfreien Akku, der Platz für eine Wasserflasche lässt. Und natürlich war uns das Design sehr wichtig. All das haben wir umgesetzt. Das Levo lässt den Fahrer vergessen, dass er E-MTB fährt.
Warum die dicken 3,0-Zoll-Reifen? Wirken die nicht abschreckend?
Beim E-Bike ist Traktion beim Bergauffahren noch viel wichtiger als bei anderen Bikes. Einfach deshalb, weil man noch viel steilere Rampen bewältigen kann. Aber ganz grundsätzlich erweitern die 6Fattie-Reifen den Grenzbereich so, dass sich jeder Fahrertyp darauf wohlfühlt – egal ob Einsteiger oder alter Hase. Bald sind die ganz normal.
Wer alle Funktionen Eures Bikes nutzen möchte, muss für den Umgang mit elektronischen Geräten ein tiefes Verständnis mitbringen.
Es stimmt, es gibt extrem viele Möglichkeiten, Informationen des Antriebs abzurufen oder Einstellungen vorzunehmen. Über unsere kostenlose Mission Control App kann man auch navigieren oder die getretene Wattleistung abrufen, solche Zusatzfeatures kosten sonst viel Geld. Aber viel wichtiger ist: Wer das nicht möchte, braucht es auch nicht zu tun. Das Bike funktioniert auch ohne Smartphone perfekt.