Max Fuchs
· 19.03.2022
Moderne Marathon-Bikes sagen den konventionellen Werten den Kampf an. Maximaler Leichtbau und steile Winkel weichen mehr Federweg und flacheren Geometrien.
Was haben pubertierende Teenager und die neuesten Marathon-Bikes gemeinsam? Sie wollen sich durch extremes Auftreten von der vermeintlich biederen Elterngeneration distanzieren. Denn, wo manch Halbwüchsiger mit ausgeflippten Klamotten, aufmüpfigem Benehmen und rebellischer Musik den Grundsätzen der Alten trotzt, stellen flache Geometrien, mehr Federweg und abfahrtslastigere Komponenten die Werte klassischer Marathon-Bikes in Frage. Immer mehr Hersteller verabschieden sich von reiner Grammfuchserei, schmalen Reifen und gestreckten Sitzpositionen. Zu Recht? Oder verweisen die konventionellen Marathon-Bikes ihre widerstrebenden Nachkommen in der Praxis wieder auf die Ränge?
Um diese Frage zu klären, haben wir vier Marathon-Bikes bestellt und treffen uns mit Gasttester und Marathon-Weltmeister Adreas Seewald am Fürther Stadtwald. Jeweils zwei Fullys und zwei Hardtails – modern und klassisch – müssen im Duell gegeneinander antreten. KTM vertritt mit dem Scarp Exonic die Oldschool-Fraktion im Fully-Vergleich. Das Bike wurde erst kürzlich mit einigen Kniffen für die neue Saison aufgehübscht, die Eckdaten unterscheiden sich aber nur minimal vom Vorgänger aus 2017. Die 100 Millimeter Federweg an Heck und Front galten bis vor nicht allzu langer Zeit noch als das Nonplusultra auf der Rennstrecke – der 68,6 Grad steile Lenkwinkel, die tiefe Front und die fixe Sattelstütze ebenfalls. Leichte Laufräder (3558 Gramm) mit schmalen Reifen drücken das Gewicht auf federleichte 9,5 Kilo. Sein Kontrahent ist kein Geringerer als das Weltmeister-Bike von Cross-Country-Ikone Nino Schurter. Mit 120-Millimeter-Gabel, Vario-Stütze, 2,4-Zoll-Reifen und breiten Felgen verkörpert das Scott Spark die Punk-Fraktion im Race-Segment.
Bei den Hardtails stehen sich das brandneue Cannondale Scalpel HT Carbon und das Cube Elite C:68X SL gegenüber. Genau wie bei KTM tritt der Kandidat aus Waldershof selbst in der aktuellsten Ausbaustufe in Sachen Geometrie, Federweg und Ausstattung brav in die Fußstapfen seiner Vorfahren: 100-Millimeter-Gabel, steile Winkel und ein extrem steifer Rahmen – „leicht erziehbar“, so würden Elternratgeber das Cube wohl einstufen. Der jüngste Wurf der US-Amerikaner durchläuft dagegen gerade eine Phase der Selbstfindung. Denn der Lenkwinkel misst extrem flache 66,9 Grad – das hat sich an einem Racehardtail bislang noch kein Hersteller getraut. Zum Vergleich: Mit diesem Wert spielt das Scalpel HT mit Trailbikes um 130 Millimeter Federweg in einer Liga. Hinzu kommen noch die etwas längere Federgabel, ein breiter Lenker und eine flexende Sattelstütze. Dadurch weichen die Attribute klassischer Hardtails, wie Spritzigkeit und maximaler Vorwärtsdrang, zugunsten von mehr Komfort und Abfahrtspotenzial.
Doch warum sollen der steile Lenkwinkel am Cube oder der Hinterbau mit 90 Millimetern Hub am KTM plötzlich nicht mehr ausreichen, um Rennen zu gewinnen? Und warum soll der Gewichtsvorteil der klassischen Bikes keine Rolle mehr spielen? Immerhin trennen Jung und Alt in unserem Duell im Schnitt 1,2 Kilo. Schaut man sich besonders im Cross-Country-Rennsport die Strecken der letzten zehn Jahre an, fällt die Antwort leicht: Steinfelder, Sprünge und fiese Steilstücke stellen Jahr für Jahr höhere Ansprüche an Piloten und Material. Logisch, dass die Hersteller mit ihren Bikes auf die extremen Anforderungen reagieren. Auch wenn Marathons diese Entwicklung nicht ganz so deutlich erleben, können Freunde der Langstrecke dennoch von diesem Trend profitieren. „Extrem leichte Bikes gaukeln einem beim Pedalieren oft vor, wahnsinnig schnell zu sein. In Summe ist ein etwas schwereres Bike mit besseren Abfahrtseigenschaften und mehr Komfort gerade auf der Langdistanz oft die schnellere Wahl,“ verrät uns Gasttester und amtierender Marathon-Weltmeister Adreas Seewald.
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