Dimitri Lehner
· 30.04.2016
Für euch nur das Beste! Wir haben diesmal sechs High-End-Enduros aus der schwarzen Wunderfaser ausgesucht. Doch sind die Kohlefaser-Allrounder wirklich die ultimativen Glücksbringer?
Da haben wir uns was eingebrockt: Wir haben nur Top-Bikes angefordert, das Teuerste und Edelste aus den Kollektionen der Hersteller. Natürlich mit besten Komponenten bestückt und allesamt aus der schwarzen Wunderfaser gefertigt: Carbon! Als Biketester, der Jagd auf Mistgurken macht, seine Leser vor Technikverfehlungen und Mängelexemplaren warnen will, ist das ein Fiasko. Als würdest du mit Ryan Gosling, Brad Pitt und Orlando Bloom auf Brautschau gehen. Machen wir uns nix vor: Das ist eine klassische "This will never work"-Situation. Einheitlich 27,5-Zoll-Laufräder, 1x11-Schaltungen, tadellose Bremsanlagen und Federelemente – es verwundert also wenig, dass wir in diesem Test alleine drei Mal die Bestnote 10 vergeben konnten. Übrigens: Die Leistungsvorteile der Versender-Bikes in Tests mit festgelegten Preisklassen verpuffen in unserem Open-End-Szenario. Was bleibt: der beachtliche Preisvorteil. Image ist teuer. Für den Preis des Santa Cruz kriegt man gleich zwei Versenderbikes von YT, Canyon oder Radon. Das ist heftig – doch so ist das nun mal in unser Luxusmarken-Welt. Leistung ist für manche eben nur der halbe Spaß, sonst würden wir alle vernünftig im VW Golf durch die Gegend rollen.
Diese Carbon-Enduros findet Ihr im Test:
• Canyon Strive CF 9.0 Race (FREERIDE-TIPP: Tope Score)
• Conway WME 1027
• Polygon Collosus N9 XX1
• Radon Slide Carbon X01 (FREERIDE-TIPP: Preis/Leistung)
• Santa Cruz Nomad C (FREERIDE-TIPP: Tope Score)
• YT Capra CF Pro (FREERIDE-TIPP: Tope Score)
Alles Plastik!
Mit Kohlefaser verstärkter Kunststoff ist leicht und steif. Bike-Designer Lutz Scheffer von Canyon, ja das Gros der Konstrukteurs-Gilde, behauptet daher, Carbon sei das überlegene Material für Sportgeräte. Tatsächlich sind die Testbikes erstaunlich leicht. Die Wunderfaser spart Gewicht (bis zu 1 Kilo gegenüber Alu) und leicht ist gut – gerade in dieser Bike-Klasse. Radons Slide wiegt (mit Serienreifen) rekordverdächtige 12,3 Kilo und hängt die ohnehin leichte Konkurrenz damit gleich um ein halbes Kilo ab. In Kombination mit antriebsneutralen Fahrwerken bedeutet der Leichtbau einen breiten Einsatzbereich, von Trailriding und langen Touren bis Bikepark-Missionen und Downhill-Geblockere. Nachteile gibt es leider auch. Carbon ist empfindlich. Ein Steinbrocken mit Schmackes ans Unterrohr – und schon kann der teure Rahmen futsch sein. Besonders wenn er nicht durch Plastik-Pads geschützt wird (wie beim Polygon). Tückisch: Im Gegensatz zu Alu, wo die Beulen deutlich sichtbar werden, versteckt Carbon seine Wunden und bricht dann ohne Warnung. Kleineres Übel: Die dünnen Carbon-Chassis der Bikes wirken oftmals wie ein Geigenkasten. Prasseln Kieselsteinchen an diesen Resonanzkörper wird’s richtig laut; das kleinste Knistern im Rahmen verstärkt sich zum lauten Knacken.
Sind Enduros die neuen Freerider?
Bis zu 170 Millimeter Federweg vorne und hinten aus richtig potenten Fahrwerken – das verleiht den leichten Carbon-Bikes tatsächlich Freeride-Qualitäten. Besonders Santa Cruz und YT sind so potent, dass man sich im Bikepark auch von Drops runterschmeißt und selbstbewusst größere Sprünge mitnimmt. Dennoch: einen Big-Bike-Ersatz liefern die Enduros nicht, sie sind immer ein Kompromiss, gerade bei nicht so hohem Fahrkönnen. Unter der abfahrtsorientierten Bewertung unseres Tests litt besonders das leichte Radon Slide, was für hitzige Diskussionen unter den Testern sorgte. Sein Einsatzbereich reicht weit Richtung Allmountain, dafür stößt das Bike an Grenzen, wenn das Gelände richtig ruppig wird. "Ein Enduro, das auch vital durch gewellte Trails beschleunigt und mit einem Federgewicht begeistert. Das wollen die meisten doch!", gab ein Tester zu bedenken und forderte 10 Punkte für das Radon. "Wir sind FREERIDE, unser Augenmerk gilt dem Downhill – und da haben andere Bikes mehr Reserven im Hinterbau!", konterten die Testkollegen und notierten einen leichten Punktabzug für dieses sonst makellose Bike.
Ausstattung: keine Kompromisse!
Dass die Top-Modelle zu satten Preisen hochwertig ausgestattet sind, wundert nicht. Da gab’s nix zu beanstanden. Dagegen überraschte, wie mancher Hersteller leichtfertig die Downhill-Performance seines Bikes schmälert, indem er schmale Lenker montiert (Conway, Polygon). Kleines Detail, große Wirkung! Unser Tipp: Wer ernsthaft bergab fahren will, braucht ein breites Cockpit (ab 760 Millimeter).Obwohl die 1x11-Schaltungen die Kette satt fixieren, verbauten fast alle Hersteller (außer Santa Cruz) eine zusätzliche Kettenführung – sicher ist sicher! Bei den Federgabeln überraschte uns die MRP des Santa Cruz. Sie entwickelte viel Komfort und spielt in der Liga der Top-Gabeln auf dem Markt. Einzig Polygon vergriff sich in der Montage-Kiste und steckte die etwas schmalbrüstige Fox 34 statt der 36 ins Steuerrohr seines Bikes. Diese Gabel funktioniert gut, kann mit der potenteren Konkurrenz aber nicht mithalten. Um die Bikes besser vergleichen zu können, montierten wir Einheitsreifen. Unsere Wahl: Michelins Wild Rock’r 2 mit weichem Gummi vorne und härterem hinten.
FAZIT: Santa Cruz, YT und Canyon schickten uns wahre Mini-Downhiller in den Test, die in unserem Test-Szenario besonders punkten konnten. Bis auf das Polygon, das mit seiner gewöhnungsbedürftigen Geometrie etwas hinterherhinkte, können wir alle Enduros dieses Tests empfehlen. Das Radon Slide begeisterte durch Leichtgewicht und Handling, definiert den Einsatzbereich aber eher Richtung Allmountain-Plus. Unter dem Begriff Enduro versteht eben jeder etwas anders.