Florentin Vesenbeckh
· 30.11.2017
Kompromisslos bergab, dank Motor entspannt oder anspruchsvoll bergauf. Mit dem 170-Millimeter-Enduro Sam² will Focus den Enduro-Gedanken neu beleben. Wir haben den E-MTB-Alleskönner bereits getestet.
Im nicht-elektrifizierten Mountainbike-Sektor driften Enduro-Bikes immer weiter in die Downhill-Richtung. Bergauf werden sie dank Shuttle- und Liftunterstützung immer weniger bewegt. Immer potentere All-Mountain-Bikes füllen diese Lücke. Kommt die Motorunterstützung hinzu, werden langhubige Bikes mit Fahrwerken, die im Downhill-Segment wildern, wieder interessanter. In diese Lücke will das neue Sam² von Focus stoßen. Die Daten verdeutlichen die Ambitionen: 170 Millimeter Federweg an Gabel und Hinterbau, 65 Grad Lenkwinkel, 27,5-Zoll-Laufräder mit breiten Felgen und Reifen, und das alles kombiniert mit Shimanos antriebsstarkem Steps-E8000-Motor.
Das Jam², sozusagen der kleine Trail-Bruder des Sam², hat uns im vergangenen Jahr mit hoher Fahrdynamik, cleveren Details und schlanker Optik begeistert. Das neue Enduro baut auf dieser Plattform auf. Der Federweg wächst auf 170 Millimeter Federweg und die Geometrie wird deutlich abfahrtslastiger. Dabei hat Focus nicht versucht, ein unmotorisiertes Enduro zu kopieren. Laut Aussage der Konstrukteure braucht ein E-Bike eine andere Balance. So fallen zum Beispiel die Kettenstreben mit 455 Millimetern nicht extrem kurz aus, ebenso der Radstand. Das soll insbesondere die Uphill-Fähigkeiten in steilen und technisch anspruchsvollen Anstiegen, die erst durch die Motorunterstützung möglich werden, verbessern. Der Lenkwinkel ist mit 65 Grad angenehm flach, der Reach mit 455 mm bei Größe L moderat.
Andere Geometrie, gleiche Grundstruktur: Das Enduro greift auf viele Details des kleinen Bruders Jam2 zurück. Dank kompaktem und leichtem 378-Wattstunden-Akku, der fest im Unterrohr verbaut ist, bleibt die Bauart kompakt und das Unterrohr für ein E-MTB erfreulich schmal. Mit 21 Kilo (Topmodell, Größe M) ohne Zusatzakku liegt das Gewicht angenehm niedrig und auch der Schwerpunkt sitzt dadurch sehr zentral. Analog zum Jam2 kann die Akkukapazität durch einen externen Akku auf dem Unterrohr verdoppelt werden. Das macht auch ausgedehnte Touren möglich, zerstört aber auch das schlanke Design und den optimierten Schwerpunkt. Die Idee dahinter: Auf der Hausrunde und kurzen Ausfahrten profitiert der Fahrer vom niedrigen Gewicht und optimalen Schwerpunkt, erst wenn es wirklich nötig ist, kommt der Zusatzakku zum Einsatz. Dieser ist serienmäßig allerdings nicht im Paket enthalten und kostet zusätzlich 499 Euro und wiegt über zwei Kilo.
In allen Modellvarianten setzt das Sam2 auf Dämpfer ohne Ausgleichsbehälter, obwohl diese einem derart abfahrtslastigen Enduro gut zu Gesicht stehen würden. Der Grund: Mit Zusatzakku findet kein „Piggy“ Platz im Rahmen.
Ebenfalls vom Jam bekannt ist das Fold-Federungssystem. Der Dämpfer wird über eine zweiteilige Wippe angelenkt, die ineinander verschachtelt ist. Die patentierte Konstruktion des abgestützten Eingelenkers unterteilt den Federweg in zwei Phasen. Die erste Phase bis zum Sag-Punkt sorgt mit einer degressiven Kinematik für sensibles Ansprechverhalten. Darüber hinaus wird der Hinterbau progressiv, um gegen Ende nicht durchzuschlagen. Jeder Fold-Hinterbau verfügt über ein komplett geschlossenes hinteres Rahmendreieck. Alle Lager, Umlenkhebel und der Dämpfer wandern dabei in die Rahmenmitte, was die ungefederte Masse am Hinterbau verringert und den Schwerpunkt zentraler im Rad liegen lässt. Zum einen verspricht man sich so ein ausbalanciertes Fahrverhalten, zum anderen eine optimal funktionierende Federung und dadurch einen Zugewinn an Grip.
Ab Januar sollen die neuen E-MTBs von Focus im Handel stehen.
Wir konnten das Sam² Pro bereits auf gebauten und natürlichen Enduro-Trails rund um Malaga testen. Das Fahrwerk arbeitet sehr sensibel und soft, der Hinterbau liegt satt und baut viel Traktion auf, das animiert dazu, die Bremsen offen zu lassen. In der gefahrenen Einstellung mit den empfohlenen 30 Prozent Sag gab der Hinterbau früh viel Federweg frei, was den Komfort in die Höhe treibt. Wer auf schnellen Abfahrten nach Sekunden jagen will, könnte allerdings etwas Gegendruck im mittleren Federwegsbereich vermissen. Erst gegen Ende des Dämpferhubs nimmt die Progression deutlich zu.
Die Geometrie lässt einen direkt wohlfühlen. Der flache Lenkwinkel verleiht viel Sicherheit und Laufruhe, trotzdem lässt sich das Sam² noch gut um Kurven manövrieren. Im Vergleich zum kleinen Bruder Jam² geht naturgemäß aber einiges an Verspieltheit flöten. Mit dem Gelände spielen, an Wellen abspringen – das erfordert mit dem satten Fahrwerk und der laufruhigen Geometrie mehr Krafteinsatz. Im Vergleich zu anderen E-Enduros ist das allerdings eher der Normalfall. Hier machen sich auch die recht langen Kettenstreben bemerkbar, denn auf das Hinterrad lässt sich der Enduro-Bolide nur widerwillig ziehen.
Das zahlt sich dafür bergauf aus. Das Sam² klettert stark und neigte auf unseren Testfahrten nicht zum Aufbäumen. Dank kräftigem Shimano-Antrieb mit Mountainbike-feundlichem Trail-Modus werden auch anspruchsvolle Anstiege zur Spaßpartie. Der Hinterbau wippt selbst im offenen Modus nicht störend und bietet viel Traktion. Wer das Heck komplett blockiert, kommt in eine noch vortriebsorientiertere Position, da der Dämpfer dann höher im Hub steht. Als Zwischenstufe steht eine effektive Plattform bereit. Etwas gewöhnungsbedürftig ist hingegen die Kombination aus Steps-Antrieb und Sram EX1-Schaltung: Durch die großen Gangsprünge steht nicht immer eine passende Übersetzung parat. Das fällt besonders auf, da der Shimano-Motor sensibel auf Trittfrequenzänderungen reagiert. Alles in allem bietet das Focus Sam2 ein potentes Gesamtpaket für anspruchsvolles Gelände, bergauf wie bergab.