Sebastian Brust
· 29.08.2017
Hans-Erhard Lessing blickt in seinem neuesten Buch "Das Fahrrad. Eine Kulturgeschichte" hinter die Kulissen und beschreibt die gesellschaftlichen Einflüsse in 200 Jahren Fahrradgeschichte.
Danke Karl: Die vor 200 Jahren von Karl Drais erfundene Laufmaschine gilt als das Ur-Fahrrad und mit der Draisine begann die individuelle Mobilität. Das Fahrrad entwickelte sich seit 1817 Schritt für Schritt von einem skurrilen Hobby der Reichen zum am weitest verbreiteten Verkehrsmittel der Welt – für viele Menschen erschwinglich und Katalysator des weltweiten gesellschaftlichen Fortschritts.
Weil die Geschichte des Fahrrads meist mit Blick auf die technische Entwicklung erzählt wird, blickt Hans-Erhard Lessing in seinem neuesten Buch "Das Fahrrad. Eine Kulturgeschichte" einmal hinter die Kulissen. Er beschreibt neben den gesellschaftlichen Hintergründen, die zu bestimmten technischen Entwicklungen führten, auch soziale Umbrüche, die erst durch das Fahrrad richtig Fahrt aufnahmen.
Der Physiker und Technikhistoriker Lessing gilt seit seinem bereits 1978 publizierten Werk "Das Fahrradbuch" als einer der weltweit führenden Fahrradexperten. So erfährt auch der in der Fahrradhistorie bewanderte Leser in diesem Buch neben Bekanntem noch Neues. Dass der Ausbruch des Vulkans Tambora östlich von Bali 1815 zur Draisschen Erfindung geführt haben soll. Oder dass die Angst der Menschen vor dem Balancieren der Grund dafür war, dass die Draisine keine Pedale hatte.
Erstaunen dürfte jeden, wie rasend schnell sich – ganz ohne Internet – durch freudiges Abkupfern das Zweirad-Konzept erst verbreitete, auch über die Grenzen Deutschlands hinaus. Das rowdyhafte Verhalten der sogenannten Dandys aber, die rücksichtslos auf Gehwegen fuhren, provozierte bereits drei Jahre nach der Erfindung bis 1820 die regelrechte Ächtung des Velozipeds, in der Folge weltweite Fahrverbote und so das frühzeitige Aus der Laufmaschinen. Erstaunlich, dass wir heute – nach 200 Jahren Fahrradgeschichte – mit den durchgesetzten oder Trail-Verboten für Mountainbiker die Vergangenheit nochmals durchleben.
Dass mutige britische, französische und amerikanische Frauen auf zwei Rädern die Grundlage für die Emanzipation der Frau sowie die spätere Fahrradmode legten, ist außerordentlich aufklärerisch. Dass die Radler mit ihren Ausflügen die Gastronomie des städtischen Umlands beeinflussten, ist äußerst unterhaltsam. Streitereien darüber, wer denn wann was zuerst erfunden hat, die Wettkämpfe von Radfahrern gegen Reiter und die Rangeleien bei den großen Radsportveranstaltungen belustigen. Vor dem Hintergrund ernsthafter Krisen und gar Kriegen löst die politische Instrumentalisierung der Fahrrads aber auch Bedrückung aus.
Ein Wermutstropfen kommt buchstäblich zum Schluss: Den letzten gut 60 Jahren Fahrradentwicklung gönnt Lessing gerade einmal etwas über zehn der insgesamt 249 Leseseiten. So lernen wir im Zeitraffer, warum Fahrräder in Amerika wie Motorräder aussehen mussten, wie es zu den kultigen Bonanza- und BMX-Rädern kam und auf zweieinhalb Seiten dann endlich: die Erfindung des Mountainbikes! Und das, obwohl der phänomenale Erfolg des Mountainbikes auch laut Lessing einen neuen weltweiten Trend der Fahrradbegeisterung begründet hat. Davon hätten wir gerne etwas mehr erfahren.
Im kompakten Jackentaschenformat beschreibt Lessing die 200-jährige Geschichte des Fahrrads und dessen Wechselbeziehungen mit Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. Zahlreiche Zitate aus historischen Zeitungen untermalen seine Thesen und lockern die interessante Lektüre auf. So viel historisches Detailwissen hätte aber von einer noch klareren Struktur und mehr Abbildungen profitiert.
Die akribischen und umfangreichen Beschreibungen Lessings, wie sich – durch frühe Fahrverbote verzögert – das Fahrrad und seine Technik vom Laufrad erst zum Prestige-Objekt der Reichen und anschließend zum reinen Sportgerät weiterentwickelte, erfordern teilweise ein hohes Maß an Konzentration und ein fundiertes technisches Verständnis. Zeitsprünge erschweren es, dabei stets den Überblick zu behalten.
Obwohl das Fahrrad mit dem fortschreitenden Schienen- und Autoverkehr an Bedeutung verlor, hätte der wieder aufflammende Fahrradboom ab den 1970er-/1980er-Jahren mehr Platz verdient. Der Bogen zur aktuellen Entwicklung im Fahrradbereich und den neuen (alten) Konflikte fällt zu kurz aus.
Trotzdem: Das Buch ist eine sehr unterhaltsame Lektüre für alle Fahrradliebhaber, voller interessanter Details und zeitgenössischer Quellenangaben aus den verschiedenen Epochen der Fahrradgeschichte.
Hans-Erhard Lessing: Das Fahrrad. Eine Kulturgeschichte.
Klett-Cotta, Stuttgart 2017
255 Seiten, , Format 12,5 x 19,6 cm, gebunden, Leinenband, mit zahlreichen Abbildungen
ISBN: 978-3-608-91342-2
Preis: 20 Euro
Mit zahlreichen beeindruckenden Fotos und in einmaliger ästhetischer Umsetzung dokumentiert das Buch "Faszination Fahrrad" ebenfalls die Entwicklungsgeschichte des Fahrrads im Zusammenhang mit dem jeweiligen gesellschaftlichen Umfeld. Der international renommierte Fahrradhistoriker Pryor Dodge legt mit diesem Werk eine umfassende Würdigung des Fahrrads als Keimzelle des modernen Individualverkehrs vor – mit einem Vorwort von Hans-Erhard Lessing. Das schönste Buch zur Fahrradgeschichte – auf dem neuesten Stand der historischen Forschung!
Pryor Dodge: Faszination Fahrrad. Geschichte – Technik – Entwicklung.
1. Auflage
224 Seiten, Format 23,9 x 28,4 cm, gebunden mit Schutzumschlag
€ 39,90 (D) / € 41,10 (A)
ISBN 978-3-7688-5316-3
Delius Klasing Verlag, Bielefeld