Gerolf Meyer
· 10.01.2018
Robert Egger hat den Traumjob: Er denkt sich den ganzen Tag lang coole Bike-Produkte aus. Wie wird man eigentlich Design-Chef bei Specialized? Zu Besuch in Eggers mythenumrankter Kreativschmiede.
Wie ein Fussballer vor dem Freistoß, so steht Robert Egger hinter der Glastür und funkelt den Besucher aus wachen Augen an.
Der Blick verrät es. Er wird gleich ein breites Grinsen aufsetzen und den Reporter mit festem Händedruck begrüßen: "Welcome to Specialized!" – willkommen bei Robert Egger. Er ist einer der langgedienten Mitarbeiter der Bike-Firma aus Morgan Hill in Kalifornien. Seine knallrote Visitenkarte gibt als Berufsbezeichnung "Troublemaker" an, Unruhestifter. An anderer Stelle wird er als Creative Director oder Lead Designer bezeichnet.
Routiniert führt Egger durch einen Showroom im Erdgeschoss, wo ein paar prominente Räder hängen, mit denen das große S seine Bedeutung für die Bike-Welt dokumentieren will. Das erste Stumpjumper, das älteste Serien-Mountainbike der Welt. Das erste FSR, Specializeds Einstieg in die Welt der vollgefederten Geländeräder. Dazu Tour-de-France-Maschinen und Downhill-Bikes. Ein richtiges kleines Firmenmuseum. Egger hat die Führung wahrscheinlich hunderte Male gemacht. Wir haken ein: "Wir kennen die Geschichte von Specialized. Wir wollen mehr über Dich erfahren." Kurz ist da wieder dieses Freistoß-Mustern, dann schwenkt Egger um und führt uns über Treppenstufen in die erste Etage, in die Galerie.
"Do you wanna see the world’s first mountainbike?", grinst er und führt uns zu einem Flintstone-Mobil, das zur Hälfte aus Modelliermasse besteht und auf dem das Specialized-S prangt. Egger hat es gebaut. Genauso wie die Cruiser hier oben, das Hotwheels-Bike samt lebensgroßer Verpackung, wie im Spielzeugladen. Oder das Polizeifahrrad, das er mal für die Gesetzeshüter von Morgan Hill entworfen hat.
"Das hier unten ist der Donut-Halter. Als wir das Bike überreicht haben, war der Applaus verhalten", plaudert Egger. Amerikanischen Polizisten wird der übermäßige Verzehr der Süßspeisen nachgesagt, Egger hat sich einen Spaß draus gemacht. Die Polizei hat nie eines der Bikes bestellt. Das passt zum Troublemaker, genauso, wie sein jüngstes Projekt, mit dem er dem Weltradsportverband UCI den radgewordenen Mittelfinger entgegenstrecken will: Das fUCI ist ein Rennrad mit riesigem Hinterrad, Aero-Verkleidungen, Gepäckabteil und integriertem Motor. Auch ein vollgefedertes Rennrad steht hier, und natürlich gibt es viele Bikes mit Motor. Ob es Eggers Aufgabe ist, hier (seit 30 Jahren) augenzwinkernd Fantasieräder zu bauen? Egger wird wieder ernst.
"Ich habe hier schon alles Mögliche gemacht. Ich habe den Boden gewischt, die Fenster geputzt, Bikes lackiert und Schriftzüge aufgebracht. Ich habe Marketing gemacht, Industrial Design, Engineering, Fotos. Ich bin das Mädchen für alles, weil ich hier angefangen habe, als das noch eine sehr kleine Firma war."
Als jüngstes von elf Geschwistern wuchs Robert Egger auf einer Milchfarm in Wisconsin auf. Schmucklos berichtet er vom kargen Alltag, von ärmlichen Verhältnissen und von der dicken Haut, die er sich zulegen musste in Auseinandersetzungen mit den großen Geschwistern. Viel mehr als die täglichen Mahlzeiten warf die Farm nicht ab. Robert bekam die abgenutzte Kleidung der Großen, und auch sein Fahrrad war schon von der halben Familie benutzt worden. Sein unbedingter Wille: ein eigenes Rad. Den Wunsch erhörte sein Vater und erfüllte ihn so, wie es eben möglich war: "Eines Tages kam er mit seinem Pickup vorgefahren, und darauf lag ein Haufen alter Bikes. Er war zum Schrott gefahren und gab mir eine Zange, einen Maulschlüssel und einen Schraubendreher. ,Bau’ Dein eigenes Fahrrad‘, hat er gesagt. Ich war fünf Jahre alt." Verblüfft von der eigenen Geschichte zeigt Egger auf Hüfthöhe. "Ich war so groß, als ich angefangen habe, Fahrräder zu bauen."
Dann erzählt Egger von der Freiheit, die er schon früh auf zwei Rädern erfuhr, von den Fluchten von der Farm und den ersten Deals mit Nachbarskindern, denen er bald auch Fahrräder baute und damit sein erstes Geld verdiente. So sollte es weitergehen. Natürlich wurde er von seinem Umfeld für diese Idee belächelt, nur die Firma Trek in Waterloo nahm ihn ernst.
Egger heuerte als Designer bei dem Bike-Riesen an und wähnte sich im siebten Himmel, als er zum ersten Mal das Materiallager in Wisconsin betrat. Doch Trek war nur eine Zwischenstation.
Egger war passionierter Radrennfahrer, mehrmaliger State Champion in Wisconsin, und die Trek-Belegschaft war nicht ansatzweise so auf Wettkampf gepolt wie er. Als sich die Möglichkeit ergab, vielleicht für die amerikanische Olympia-Mannschaft ausgewählt zu werden, strich Egger die Segel und zog in ein Trainingszentrum nach Kalifornien. Doch auch dort passte das hyperaktive Farmkind nicht ins Bild: "Ich hätte zu allem ja sagen müssen, und dafür war ich zu stur." Ob damit auch der pharmazeutische Bereich gemeint ist? "Es ist alles gemeint." Egger stockt wieder kurz, schaut ernst und durchdringend, dann geht die lockere Erzählung weiter. Statt für Olympia zu trainieren, habe er Design-Arbeit für Firmen wie Blackburn gemacht und nebenbei in einem Radladen gejobbt. Auch dort behielt er seinen eigenen Kopf, und als ein Kunde sich für eine simple Satteltasche interessierte, riet er energisch vom Kauf des Specialized-Modells ab. Zu billig gemacht, kein gutes Design, ehrlich gesagt: "Really shitty." An der Kasse stellte sich der Kunde schließlich vor: "Ich bin Mike Sinyard, der Gründer von Specialized." Egger rutschte das Herz in die Hose, und als er für den nächsten Tag nach Morgan Hill zitiert wurde, rechnete er mit der ultimativen Abreibung für seine fehlgesteuerte Händleraushilfsarbeit. Stattdessen bekam er ein Jobangebot.
Vom Galeriebereich läuft man bei Specialized durch Großraumbüros mit typischer Bike-Firma-Atmosphäre: Große Bildschirme auf geräumigen Schreibtischen, Pinnwände mit Zeichnungen und Skizzen, Räder, Rahmen, Teile aller Art hängen, liegen und stehen dazwischen herum. Hier wird der Großteil der Produkte erdacht, die man ein paar Monate später bei Specialized-Händlern auf der ganzen Welt kaufen kann. Doch der Schreibtisch ist nicht Eggers Arbeitsplatz. Er führt uns in einen kleinen Bereich einer Werkhalle, der eher nach Rahmenbauwerkstatt aussieht: Eggers wirkliches Reich. Hier schweißt, lötet, laminiert und lackiert er, probiert Farben und Formen aus und verwirft sie. Das Wort "Kunst" ist inzwischen schon mehrere Male gefallen. Egger setzt sich keine Grenzen.
"Ich bin hier, um der Marke Seele zu geben", sagt er und erzählt, dass er täglich durch das Großraumbüro laufe, wo die Datengläubigen sitzen, die Ingenieure, die alles berechnen wollen und am Bildschirm Erkenntnisse aus dem hauseigenen Windkanal in Produkte einfließen lassen. "Ich liebe und hasse dieses Ding. Die Räder sehen alle gleich aus, weil der Wind dir das diktiert." Also greift Egger ein, wenn er es für nötig hält. "Es ist ein ständiger Kampf. Ich habe mir hier schon Boxkämpfe geliefert und jemanden in den Schwitzkasten genommen, bis er sagte: ,Designers are the best.‘" Dass die Wahrheit irgendwo in der Mitte liege, schiebt er etwas leiser nach.
Für Eggers Eingreifen gibt es bei Specialized kein Regelwerk. Er versucht mitzubekommen, wo etwas entwickelt wird und reagiert darauf. Ein interner Design-Leitfaden wird gerade erst erarbeitet. Worum es ihm bei seinen Kämpfen geht?
"Die Daten hat jeder, und darum sieht alles ziemlich gleich aus. Aber wir müssen immer auch respektlos sein und Dinge anders machen: Wenn du ein Bike im Laden stehen siehst, muss es aussehen, als wolle es direkt losspringen." Egger zeigt auf ein Epic, Specializeds Cross-Country-Fully, und fährt mit seinem Finger die gerade Linie zwischen hinterem Ausfallende und Steuerrohr nach. "Wenn es gut aussieht, ist es auch schnell. Deine Augen verstehen viel mehr als Zahlen und Daten." So sei zum Beispiel auch der Hauptrahmen des Enduros mit seinem charakteristisch gekreuzten Oberrohr entstanden. Doch Eggers Arbeit beschränkt sich nicht nur auf das Aussehen der Bikes.
Immer wieder zieht er Vergleiche zu Autos und Motorrädern, die er für ihre kraftvolle Formensprache verehrt. Dass auch Fahrräder in Zukunft immer öfter motorisiert werden, ist für Egger längst ausgemachte Sache und damit keiner weiteren Erwähnung wert. "Wenn ich nur fünf Jahre in die Zukunft schaue: Da werden die Bikes schon ganz anders sein, mit viel mehr integrierter Technik als bei einem Auto."
So sei auch das SWAT-System im Unterrohr mancher Modelle entstanden, ein per Klappe zu öffnender Stauraum, in dem sich Schläuche, Tools und Riegel unterbringen lassen. Egger wedelt mit einem Aluminiumrohr mit Aussparung und reingebasteltem Schlauch, der erste Entwicklungsschritt des SWAT-Systems. "Ich fühle mich glücklich, dass mich Mike Sinyard all den verrückten Kram hier machen lässt. Er weiß, dass Teile davon in unsere Serienräder einfließen. Ich glaube natürlich, dass das nicht genug ist."
Wie er es geschafft habe, so lange in dieser Firma zu bleiben, wo doch viele nach ihm gekommen und vor ihm wieder gegangen seien? Egger überlegt kurz, schildert den Druck, der im Unternehmen herrsche und spricht von der täglichen Bewährungsprobe, der auch er sich stellen müsse. Und dass ein Mike Sinyard einem nie das Gefühl gebe, wirklich zufrieden zu sein. Dann fügt er hinzu: "Das ist eine Frage der Relationen: Viele Leute, die hierherkommen, halten das für ein hartes Arbeitsumfeld. Das ist es auch. Mein Vorteil ist: Ich habe das Härteste lange hinter mir. Es war nie wieder so hart wie in Wisconsin." Dann lächelt er. Stolz und selig. Wie ein Fußballer nach einem verwandelten Elfmeter.
Wir stehen im Abendlicht auf Eggers kleiner Farm, die er entworfen und gebaut hat und auf der seine Frau Ziegen züchtet. Man hat einen wunderbaren Blick über die Monterey Bay, in der Garage stehen Fahrräder neben Motorrädern und einem alten BMW, den er selbst aufgearbeitet hat. Unten gehen im Surfer-Paradies Santa Cruz langsam die Abendlichter an. Vorhin hat Egger den BMW mal kurz angeworfen und breit gegrinst, als das Brüllen des Motors die ganze Garage ausfüllte und unser Gespräch übertönte. Das Kind aus Wisconsin hat es geschafft.
Info Robert Egger
Der US-Amerikaner ist 55 Jahre alt und wurde auf einer Milchfarm in Wisconsin geboren. Nach dem Einstieg in die Bike-Branche bei Trek arbeitet er seit über 30 Jahren für Specialized in Kalifornien. Egger ist Seriensieger des berüchtigten Lunch Rides und ansonsten fürs Produkt-Design zuständig. Zu seinen berühmtesten Entwürfen zählt die "Epic-Silhouette", die Linienführung der Epic-Linie. Egger arbeitet derzeit an einem internen Design-Leit-faden. Neben Fahrrädern mag er schnelle, schöne Autos und Motorräder.
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