Der 5642 Meter hohe Elbrus im russischen Kaukasus zählt zu den Seven Summits. Ein eher leicht zu besteigender Gipfel, heißt es. Seine viertägige Umrundung gehört dagegen mit zum Härtesten, was man sich als Mountainbiker antun kann.
Zitternd und durchnässt bis auf die Knochen stapfen wir durch hohes Gras und kratzendes Buschwerk. Immer dem Lichtstrahl unserer Helmlampen hinterher. An den Regen, der seit Stunden auf uns einprasselt, haben wir uns längst gewöhnt. Aber seit Einbruch der Dunkelheit kriecht nun auch die Kälte aus dem Boden. Wir sollten besser keine Zeit mehr verlieren, wenn wir so knapp vor unserem Nachtlagerplatz nicht erfrieren wollen. Doch es sieht nicht gut aus. Wir können die verdammte Brücke nicht finden, die uns über den reißenden Fluss bringen soll. Außerdem sind zwei unserer Kumpels verschwunden. Dan und Fred haben sich vor einer ganzen Weile in der anderen Richtung auf die Suche nach der Brücke gemacht – seither hat sie die Dunkelheit verschluckt. „Das fehlt uns jetzt noch, dass wir uns verlieren“, presst Dennis zwischen seinen klappernden Zähnen hervor. Auch er scheint nach dem langen Tag im Sattel kräftemäßig am Ende zu sein. Da flackert über uns in der Böschung ein Licht durch die schwarze Nacht …

Dan Milner Die Flüsse sind nicht nur frostig kalt – sie werden rund um den Berg auch zum echten Problem: Ab mittags lässt sie Gletscherschmelzwasser zu unüberquerbaren Monstern anschwellen.
Niemand hat damit gerechnet, dass uns der Elbrus schon am ersten Tag die volle Breitseite verpasst. Von den vier Etappen rund um den Berg sollte die erste eigentlich die einfachste werden. 1300 Höhenmeter, so hatten wir vorab ausgerechnet, sind bis zum frühen Nachmittag locker abgespult. Zumal wir unser Camping-Gepäck nicht selbst schleppen müssen. Es wird uns per Shuttlebus zu einem vereinbarten Übernachtungsplatz gebracht. Aber der russische Kaukasus macht offensichtlich seine eigenen Regeln: Aus 1300 wurden schnell 1900 Höhenmeter, und statt einem halben Touren-Tag sind wir bereits 13 Stunden unterwegs. Wahrscheinlich wären wir ohne Bikes sogar schneller gewesen. Auf der einen Pass-Seite haben wir sie den steilen Geröllhang nur hochgetragen und auf der anderen Seite zum Großteil auch wieder bergab. Für einige der senkrecht abfallenden Felsstufen hätte man sogar ein Sicherungsseil gebraucht – was wir natürlich nicht dabei hatten. So ging uns wegen der komplizierten Kletterei schnell das Tageslicht aus, und nun stapfen wir im Dunkeln das sumpfige Flussufer ab und suchen nach dieser verdammten Brücke. Nur sie trennt uns noch von unseren trockenen Klamotten, die da drüben am anderen Flussufer sicher seit Stunden auf uns warten.
„Fred, Dan, seid Ihr das? Wir sind hier unten!“, rufe ich Richtung tänzelndes Lampenlicht. Der Lichtstrahl zielt erst auf Dennis und mich, dann sofort weiter Richtung Fluss. „Da!“, ruft Freds Stimme. „Die Brücke!“ Nun ja, zumindest liegen da ein paar zusammengebundene Baumstämme quer über dem schäumenden Wasser. Sieht wackelig aus, aber egal, das müsste klappen.

Dan Milner Dan Milner, Fotograf: Der Brite war auch schon in Nordkorea biken. Manche nennen ihn „sucker for punishment“.
„Warum habt Ihr so lang gebraucht?!“ Svetlana hat sich sichtlich Sorgen um uns gemacht. Seit Stunden sitzt sie hier in ihrem russischen Kleintransporter und wartet am vereinbarten Treffpunkt mit unserem Gepäck. Tja, gute Frage. Wir hatten uns die Route um den Elbrus auf digitalen Topo-Karten zusammengeklickt. Alles gängige Trekking-Routen. Dass es sich dabei um steile Wege handelt, war klar. Aber diese extreme Verblocktheit war aus den Karten nicht herauszulesen. Und der Gepäcktransport macht es zusätzlich kompliziert. Er erspart uns zwar sperriges Mehrgepäck am Berg, aber nun müssen wir jeden Abend bis in die Täler abfahren, um den Shuttle zu treffen. Damit verlieren wir jedes Mal Höhenmeter, die wir am nächsten Morgen erst wieder hochklettern müssen. Mal ganz davon abgesehen, dass sich das ganze Unternehmen mit Gepäck-Shuttle auch weniger abenteuerlich anfühlt.

Dan Milner Gletscherabfahrten haben wir vorher alle schon mal gemacht. Aber die Elefantenhaut-Struktur des Azaubashi-Gletschers raubte uns am letzten Tag die Nerven. Stundenlang rutschten, kletterten und sprangen wir über Gletscherspalten – und wären am Ende doch beinahe noch gescheitert.
Am nächsten Morgen scheint Gott sei Dank die Sonne. Voller Tatendrang löffeln wir den faden russischen Haferbrei in uns rein und machen uns schnell auf den Weg. Leider dauert die Fahrt nur ein paar Minuten. Wieder stiert der Pfad so steil bergan, dass wir die Bikes über die Schultern werfen müssen. Aber die Motivation ist heute eine andere. Schon weil wir bei Tageslicht wieder was von der Landschaft sehen. So erreichen wir den 3250 Meter hohen Kyrtykaush-Pass bereits am späten Vormittag und blicken von dort weit über den Großen Kaukasus. Der Gebirgszug ist eine tektonische Naturgewalt. Eine 1000 Kilometer lange Kette mit weißen Spitzen, die einen gigantischen Grenzzaun zwischen Europa und Asien zieht – zumindest, wenn es nach Bergsteigerkreisen geht. Nach deren Rechnung liegt der Elbrus noch auf europäischer Seite und wäre damit der rechtmäßig höchste Berg Europas.
Leider wurde die eurasische Grenze aber nie genau definiert, und damit wird der Mont Blanc offiziell als höchster Gipfel Europas geführt. Uns ist das egal. Wir betrachten den Elbrus einfach als den unangefochtenen König des Kaukasus. Schon wie der 5642 Meter hohe Vulkan dasteht, mit seinen zwei weißen Gipfeln und seinen dicken Gletscherpelzen an den Flanken. Eine kleine Wolke verhakt sich gerade an seiner Westspitze und setzt ihm sogar noch eine Art Krone auf. Dan kann unser Glück gar nicht fassen: „Ist das zu glauben?!“, seine Stimme überschlägt sich fast. „Stellt Euch vor, wir hätten gestern im Regen hier oben gestanden!“ „Oder nur ein paar Minuten später“, ergänzt Fred und deutet auf die schnell aufziehende Gewitterfront am Himmel. Erstes Donnergrollen ist bereits zu hören. Hastig zerren wir unsere Regenklamotten aus dem Rucksack und machen uns an den Rückzug. Fred und Dennis stürzen sich als erste in den Trail, der sich eigentlich nur als Hauch von einer Spur durchs grobe Geröll bahnt. Die beiden Enduro-Spezialisten lassen das lose Gestein in den Kurven richtig fliegen und spuren damit für mich und Dan eine Art Fahrrinne. So schaffen wir es alle aus der hochalpinen Gefahrenzone, bis das Gewitter so richtig losbricht.

Dan Milner Anfangs noch als ein zarter Hauch von einem Weg erkennbar, dann versickert der Trail im Geröllhang.
Von den grauen Geröllhalden fließt der Pfad in ein grünes Tal über. Das Rasseln unserer Radnaben scheucht eine Herde Wildpferde auf, und erst in einem Flusstal ist die Abfahrt zu Ende. Weiter gen Norden schieben sich nun ein paar Bergkämme in den Weg, die wir auf breiten Forststraßen überqueren, bis wir eine weite Hochebene an der Nordflanke des Elbrus erreichen. Eine Handvoll Unterstände aus Holzlatten und Planen ragen hier aus der Wiese – ein sogenanntes „Camp“ für Bergsteiger. Von hier aus, knapp unterhalb der Schneegrenze, brechen die Gruppen sonst Richtung Gipfel auf. Auch wir bleiben heute Nacht hier. An einem der Unterstände hat Svetlana unsere Zelte schon ausgeladen.
Noch vor Sonnenaufgang pedalieren wir am nächsten Morgen bereits auf dem Trail, der uns um die Nordflanke des Elbrus herumführt. Fast flach zieht sich der Pfad über das grasbewachsene Bechassyn-Plateau dahin.
Die Wolken hängen tief und hüllen uns in eine fast gespenstische Stille. Doch dann bohren sich die ersten Sonnenstrahlen durch den Nebel und reißen Gucklöcher in den Vorhang: Der majestätische Gipfel glänzt über uns bereits im goldenen Licht. Ein meditativer Moment, der leider nicht lange anhält. Plötzlich stehen wir vor dem Problem, vor dem uns die Karte bereits gewarnt hat: Ein Fluss hat sich sein Bett mitten durch das Plateau gefräst. Das ist der Grund, warum wir morgens so früh aufgestanden sind. Denn wir müssen ihn durchwaten, bevor ihn das tägliche Gletscherschmelzwasser zum unüberquerbaren Monster anschwellen lässt. Schon jetzt versucht uns das eiskalte, knietiefe Wasser mitzureißen und mit taubgefrorenen Füßen ist es gar nicht so leicht, Halt im steinigen Flussbett zu finden. Aber wir erreichen alle das andere Ufer, ohne dass wir das Sicherungsseil auspacken müssen. Laut Karte steuern wir gen Westen auf weitere Flussbetten zu. Die werden ab Mittag nicht mehr passierbar sein. Also müssen wir eine Etage höher. Auch wenn das bedeutet, dass wir dann über den 3720 Meter hohen Balkbashi-Pass klettern müssen. Die Route zieht sich einen gigantischen Steilhang aus Schiefergestein hinauf. Lose übereinander liegende Gesteinsplatten, die unter den Schuhen nicht nur wegrutschen, sondern sich auch in die Knöchel bohren. Doch dafür hangeln wir uns direkt am Eispelz des Elbrus entlang. Tiefblau schimmert es aus zahllosen Gletscherspalten. Obwohl der Vulkan seit 2000 Jahren nicht mehr ausgebrochen ist, gilt er noch als aktiv. Man möchte sich nicht ausmalen, was mit diesem riesigen Eispanzer passiert, wenn der Riese doch noch mal Feuer spucken sollte…
Der Anstieg zieht sich. Auch weil der Pfad immer wieder in einer Gesteinswüste versickert. Das macht die Navigation zur nervtötenden Angelegenheit. Selbst der kleinste Richtungswechsel wird mittlerweile strategisch ausdiskutiert. Weil wir inzwischen wissen: Jede Fehlentscheidung hat an diesem Berg kraftraubende Konsequenzen. Als wir dann doch endlich den letzten Schritt auf den höchsten Punkt unserer Tour machen, kann uns der Blick auf die andere Pass-Seite schon gar nicht mehr schockieren: ein nicht enden wollender, strammer Rockgarden bis ins Tal hinunter.
Da sackt uns das Blut am nächsten Tag schon deutlich mehr in die Füße. Svetlana hatte uns vor dem Koltsevoy-Pass gewarnt. Landschaftlich sei es da oben sehr schön, aber gerade der Abstieg: „brandgefährlich“! Leider sollte sie Recht behalten. Auf 3350 Metern Höhe blicken wir erst über eine felsige Ebene mit kleinem See, in dem sich der verschneite Kopf des Elbrus spiegelt. Eigentlich ein Anblick, den man etwas länger genießen müsste, aber wir sind zu nervös und rollen lieber gleich weiter zur Abfahrt dahinter: ein Steilhang mit riesigen Felsbrocken. Der „Weg“ hindurch ist diesmal leicht zu erkennen: eine Direttissima-Rinne aus „nur“ kopfgroßem Geröll. Fahren oder schieben? „Fahren bedeutet Russisches Roulette …“, murmel ich noch, da stößt sich Fred schon ab. Kaum zwei Radlängen unterwegs verfolgt ihn das Geröll. Zunächst als klackernde Schleppe, dann als ausgewachsener Felsrutsch. Erst, als sich der Hang beruhigt und die Staubwolke verzogen hat, entdecken wir Fred ganz unten winkend auf einem sicheren Felsvorsprung. Das Startzeichen für Dennis. Der Australier versucht, Tempo und Balance mit blockierter Bremse und Heckschwingen zu kontrollieren – auch er erreicht das Hangende unverletzt. Nur ich und Dan gehören nicht zu den Spielertypen. Wir rutschen lieber zu Fuß runter. Das kostet leider Zeit, und so erreichen wir den nächsten Camp-Treffpunkt so gerade noch mit Einbruch der Dunkelheit. Svetlana hat heute ihren Kollegen Tambi Islam mitgebracht. Beide wirken erleichtert. Sie hatten unsere Elbrus-Umrundung mit dem Bike anfangs als völlig absurd eingestuft – jetzt sind sie stolz, Teil dieser Mission zu sein. Doch zum Partymachen ist es noch zu früh. Der 3550 Meter hohe Khotjutau-Pass steht morgen noch an, mit anschließender Abfahrt über den Azaubashi-Gletscher. Also noch zwei Hürden, die uns vom kleinen Skiort Terskol trennen.
Als am nächsten Morgen die Sonne über den verschneiten Gipfeln aufgeht, haben wir den Großteil des langen Anstiegs bereits hinter uns. Doch zu unserem großen Leid haucht der Trail am Ende des Geröllhangs wieder sein Leben aus. Noch mal klettern von Stein zu Stein, jeder sucht für sich den Weg des geringsten Widerstands. Nacken und Schultern krampfen mittlerweile unter der Last des Bikes, meine Beine zittern. Trotzdem zieht der Hang noch ein paar Steigungsprozente an. Bei jedem Schritt nach vorne, rutschen die Füße im lockeren Schiefergebrösel wieder nach unten. Doch irgendwann stehen wir im 360-Grad-Panorama des Khotjutau-Passes und können unsere Erschöpfung rausschreien.

Dan Milner Trockene Klamotten und ein leichter Rucksack sind auf Tour natürlich Gold wert, aber der Gepäcktransport hatte einen großen Nachteil: Wir mussten jeden Abend bis ins Tal abfahren.
„So und jetzt nur noch da drüber“, sage ich etwas sarkastisch und deute auf das wilde Eismeer unter uns. „Ziemlich viele Gletscherspalten“, findet auch Dan, „aber wenigstens sieht man sie.“ Vor diesem Moment graust es mir seit Tagen.
Ich bin zwar Nahtod-Erfahrungen mit Gletscherspalten gewöhnt, aber diese zu Eis gefrorene Elefantenhaut jagt mir doch Schauer über den Rücken. Also noch eine Runde Russisches Roulette. Diesmal gefühlt allerdings nicht mit einer, sondern mit drei Kugeln im Magazin.
Wir klettern auf den Gletscherrand, mein Schuh sinkt auf der angetauten Eisschicht satt knarzend ein paar Zentimeter ein. Grip ist also da. Okay, wir rollen stotternd los. Die meisten Gletscherspalten sind so schmal, dass wir drüberspringen können. Stundenlang hüpfen wir über diese tiefblauen Eisschlitze. Manchmal müssen wir auch Schmelzwasserbäche durchwaten oder über braune, weiche Moränensandhügel stapfen. Gerade klettern wir von solch einem Schlammstreifen aufs letzte große Eisfeld, da wird mir schlecht: Da unten schimmert schon der Gletschersee. Ein viel versprechender Trail kurvt von seinem Ufer weiter ins Tal. Doch leider klafft davor noch eine richtig breite Spalte im Eis. „Nur mit viel Anlauf möglich“, schätzt Fred den Sprung aus 100 Metern Entfernung bereits ein. Keine Ahnung, warum wir alle noch mal an dieser Revolvertrommel drehen, abdrücken – und wieder Glück haben. Wahrscheinlich sind wir so kurz vor Ende der Tour einfach zu fertig, um Todesangst zu verspüren. Unten am Gletschersee drehe ich mich noch mal zum Elbrus um. Seine beiden Gletschergipfel stehen da wie immer. Scheinbar haben wir den Riesen mit unseren Moves nicht sonderlich beeindruckt. Er uns dafür umso mehr.