Joe Vadeboncoeur hat den Sport und die Industrie über drei Jahrzehnte mitgeprägt. Als Berater und Trail-Advokat engagiert er sich heute für die Verbesserung der Infrastruktur und nimmt dabei auch die Bike-Industrie in die Verantwortung.
Wir haben das Urgestein der US-amerikanischen Bike-Szene im Rahmen unserer Kampagne "Love Trails – Respect Rules" zur Zukunft des Mountainbikens befragt. Lesen Sie hier das Interview aus BIKE 9/2020 in voller Länge.
BIKE: Joe, Du bist seit über drei Jahrzehnten in der Bike-Industrie. Aktuell scheinen wir eine Zeitenwende erreicht zu haben. Siehst auch Du einen Umbruch im Mountainbike-Sport?
JOE VADEBONCOEUR: Ganz ehrlich? Wenn ich auf meine Karriere in der Bike-Industrie blicke, gibt es inzwischen einiges, auf das ich alles andere als stolz bin. Hingegen sehe ich heute Entwicklungen, die mich sehr positiv stimmen. Also ja: Ich hoffe und glaube, dass auch wir uns in den kommenden Jahren deutlich wandeln werden.
"SPEKTAKULÄRES SHREDDEN WAR GESTERN." Joe Vadeboncoeur
Du hast in einem offenen Brief die Bike-Industrie aufgerufen, Verantwortung zu übernehmen und das Image neu zu denken. Wie kam es dazu?
Ich fasse mich da an meine eigene Nase. Ich habe in meinen zehn Jahren als Marketing-Chef bei Trek laut nach Bildern gerufen, auf denen es staubt. Aggressives Fahrverhalten, spektakuläres Shredden oder zwei Reifen in der Luft. Die Industrie ist lange mit diesem Image erfolgreich gefahren. Aber wenn wir das noch weiterverfolgen, werden wir bald auf eine Wand stoßen. Ich war gerade vor dem Frühstück eine Runde auf unseren Trails unterwegs. Wem bin ich begegnet? Zwei Vätern mit ihren Töchtern. 45 Prozent der Mitglieder in unserem Verein sind weiblich. Es ist also offensichtlich, dass die Industrie sich neu ausrichten muss.
Erlebt Ihr in den USA gerade auch so einen Moutainbike-Boom?
Ich sag es mal so: Einer unserer Bikeshops hat gestern 20 neue Bikes geliefert bekommen und war unglaublich happy. Der Händler hat sie unauffällig durch die Hintertür reingeschmuggelt, um sie in Ruhe aufbauen zu können. „Wenn das nämlich jemand sieht“, meinte er, „stürmen sie sofort den Laden.“ Am Wochenende ist der Shop sicher wieder leergekauft. Wir Biker sind viele, und wir werden mehr, und deshalb müssen alte Strukturen aufgebrochen werden.
In welcher Form würdest Du das denn gerne sehen?
Ich denke, dass erfolgreiches Marketing weniger imposanten Schein als Transparenz erfordert. Es geht darum, was und wer hinter der Marke steht. Das bedeutet zum einen, dass man sich öffnet, vielleicht auch politisch Stellung bezieht, Charakter zeigt. Und man sollte in allen Bereichen ehrlich sein. Das heißt eben auch, dass man darstellt, wer tatsächlich auf dem Bike unterwegs ist, die ganze Vielfalt inklusive Kids und Frauen. In der Industrie mag ein aggressiver Rider noch maximal sexy sein. Das Image aber, das bei den Menschen draußen ankommt, bringt uns nicht weiter. Wir müssen verstehen, dass wir uns damit selbst ins Bein schießen. Versuchen wir doch, den Sport voranzubringen und Konflikte zu entschärfen.
Glaubst Du, dass sich der Image-Wandel vollziehen kann?
Für die nächsten Jahre bin ich mir da nicht sicher. Aktuell macht das Marketing wahrscheinlich im Durchschnitt ein Kerl von Mitte vierzig. Womöglich fehlt ihm die Einsicht oder der Weitblick, neue Schritte zu gehen. Aber für die nächste Generation steht Diversität und Nachhaltigkeit ganz selbstverständlich weit oben auf der Liste. Und so muss und wird sich sicher ein neues Bild des Sports zeichnen.
Wie konfliktreich ist es denn bei Euch in den USA derzeit?
Das hängt von der Region ab. Wir sind beispielsweise eine Tourismus-Destination, und die Leute wissen, dass hier jeder unterwegs ist und man sich das Wegenetz teilt. Wir kämpfen eher damit, dass E-MTBs noch als motorisierte Vehikel kategorisiert werden und somit nicht auf die Bike-Trails dürfen, sondern Strecken mit Quads und Motorrädern teilen müssen. Da arbeiten wir also eher am E-MTB-Image. In urbanen Regionen wie Minneapolis sieht es ganz anders aus. Da ist es aktuell eher furchteinflößend. Da hast du eine Familie, die in die eine Richtung fährt, zwei Enduro-Biker, die ihnen entgegenkommen, dazu Wanderer und Hundebesitzer. Es ist unkoordiniert, und vor allem ist es voll.
Wie könnte man das entzerren?
Das Allerwichtigste ist zunächst, Aufklärungsarbeit zu leisten und das Bewusstsein für den Respekt gegenüber Mensch und Natur weiter zu forcieren. Das ist ein sehr großes Projekt für die IMBA (International Mountain Bicycling Association, Anm. d. Red.). Und dann ist natürlich auch ein neues Design dieser Wegenetze notwendig. Das ist wie bei der Stadtplanung: Wenn eine Stadt wächst, muss man auch den Verkehrsfluss neu optimieren.
Wie finanziert sich so was?
Bei uns gibt es zum einen Fördermöglichkeiten vom Staat, aber auch hier ist die Industrie gefordert. Die großen Marken Trek, Specialized, Giant, aber auch Santa Cruz zeigen inzwischen Verantwortung und stellen Töpfe für Trail-Bauprojekte zur Verfügung. Dieses Engagement muss weiter wachsen. Die Industrie kann nicht nur Räder produzieren und kassieren, sie muss sich auch ihrer Verantwortung bewusst werden und sich deutlich mehr einbringen.

Joe Vadeboncoeur,Privatfoto JOE VADEBONCOEUR (59) begann 1989 bei Trek in den USA und blieb 28 Jahre der Marke treu. Er startete im Sales-Bereich, wurde Produkt-Manager, betreute das Raceteam und leitete über zehn Jahre die Marketing-Abteilung. 2017 machte er sich mit GoodHeart Solutions als Berater, Rad-Lobbyist und Trail-Designer in Wisconsin selbstständig.

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