Stefan Frey
· 14.01.2016
Es gibt hunderte Radhosen und ebenso viele Sitzpolster. Passt die Hose nicht zum Träger kann sie einem so richtig die Tour vermiesen. Wir haben 36 Modelle für Frauen und Männer getestet.
Verzweifelte Gesichter sitzen im Kino oft nur einen Platz weit entfernt. Die freie Wahl aus 300 Stühlen ist ein Fluch. Zu weit vorne klemmt man im Sessel wie Hans-Guck-in-die-Luft. Ganz hinten schmerzt der Kopf vom Augenzusammenkneifen. Also sitzt man in der Mitte, wo sich garantiert ein Riese vor einem breit macht, an dem man weder links noch rechts vorbeisieht, ohne wild im Sessel herumzurutschen. Ähnliches beobachtet man, wenn Radler Radhosen kaufen. Mit zu kurzen Trägern kann man kaum aufrecht stehen. Zu enge Beinabschlüsse schnüren die Oberschenkel wie ein Schraubstock ein. Und wenn das Polster nicht richtig sitzt, rutscht man im Sattel herum, wie ein Erstklässler, der sich nicht traut, aufs Klo zu gehen. Die Wahl der passenden Radhose kann sprichwörtlich zur Qual werden. Unser Test soll Ihnen die Suche erleichtern.
Einsteigermodelle:
Top-Modelle:
Wir haben für Sie insgesamt 36 Hosen von zwölf Herstellern für Frauen und Männer getestet – günstig und teuer. Zwischen 120 und 230 Euro wandern für eines der Top-Modelle über den Tresen. Das kann und will sich, verständlicherweise, nicht jeder leisten. Vor allem, weil Vielfahrer mit nur einer Hose nicht auskommen. Der Vergleich mit den Einsteiger-Modellen soll zeigen, ob man das volle Programm auch schon für unter 100 Euro bekommt.
Acht Testfahrer – vier Frauen und vier Männer – waren über mehrere Wochen mit dem Test beschäftigt: anprobieren, Passform checken und bei einer ausgiebigen Testfahrt tief ins Sitzpolster "lauschen". Ob sich die Testhosen dabei wie ein flauschiger Plüschsessel oder eine sperrige Bierbank anfühlen, war meist nach wenigen Kilometern klar. Als besonders angenehm empfanden die Tester breite, nicht zu enge Beinabschlüsse und nahtfreie Träger, die sich perfekt an die Radhaltung anpassen. Ausstattungsmerkmale, die sich leider fast ausschließlich bei den teuren Modellen finden. Bei den trägerlosen Damenhosen entscheidet oft der Bund: breit und weich soll er sein. Sitzt er zu eng, schneidet er bei jedem Tritt in die sensible Haut am Bauch.
Die Hauptrolle in jeder Radhose spielt allerdings das Sitzpolster, das wurde bereits im Vorfeld klar. Beim Besuch bei Elastic Interface, einem der weltweit größten Hersteller von Sitzpolstern, macht Firmengründer Marino de Marchi sofort klar: Auf das Polster kommt es an. Form und Größe sind dabei die entscheidenden Kriterien. Hier sind die Unterschiede am größten. Oft ist der Sitzknochenabstand bei Männern schmaler. Die Werte liegen zwischen 6 und 16 Zentimetern. Doch die Polster werden nicht in jeder möglichen Zentimetervariante angeboten. Frauen reagieren auf Druck im Schambereich meist sensibler. Deshalb sollte das Sitzpolster hier besonders weich und angenehm zu tragen sein. Wenn die Form des Polsters nicht zur Anatomie des Körpers passt, wird man selbst mit der teuersten Radhose nicht glücklich werden.
Allein fünf Hersteller aus unserem Test beziehen ihre Sitzpolster vom italienischen Spezialisten. Unterschiede gibt es trotzdem: Während manche Hersteller einfach ein Modell "von der Stange" wählen, werden für Firmen wie Gore Bike Wear oder Assos eigene Polster entwickelt. Ein aufwändiger Prozess, für den der Schweizer Hersteller Assos beispielsweise eine komplette Testmannschaft unterhält. Unter verschiedensten klimatischen Bedingungen spulen die Tester tausende Kilometer für das perfekte Sitzgefühl ab. Mit Erfolg: Die hochwertigen Sitzpolster von Assos und Gore Bike Wear gehören zu den Lieblingen der Tester. Annähernd so gut sitzen sich ansonsten nur die Polster in den teuren Modellen von Bontrager, Craft und Löffler. Wie wichtig jedoch auch ein guter Schnitt und der richtige Stoff sind, zeigt sich bei der teuren Adidas: angenehme Träger, breite Beinabschlüsse, doch der zu elastische Hosenstoff kann das gute Polster nicht in Position halten.
Das ist so ärgerlich, als würde sich noch kurz vor Filmstart ein riesen Typ auf dem Platz vor einem breitmachen und die Sicht komplett versperren.
FAZIT Stefan Frey, BIKE Testredakteur: "Billige Hinterhofproduktion oder anspruchsvolles Art-House-Kino. Der Kinobesucher merkt den Unterschied sofort. Auch bei den Radhosen klafft eine große Lücke zwischen Einsteiger- und Top-Modell. Während die meisten preiswerten Hosen nur auf kurzen Strecken punkten können, hat sich für Vielfahrer die Investition in eine teure Bib schon nach wenigen Ausfahrten gelohnt. Lediglich die günstigen Assos und Löffler können bei den Großen mitspielen. Dafür kratzen sie preislich aber auch an der Obergrenze. Sparfüchsen können wir auch noch die Craft Move und die Scott RC Team empfehlen."
Flexibilität Ein gutes Sitzpolster sollte beweglich wie ein Yogi-Meister sein. Nur dann kann sich das Polster an das Gewebe der Hose und die Bewegungen des Fahrers anpassen. Ein zu starres Polster fühlt sich an wie eine Windel und wird über kurz oder lang im Sitzbereich drücken.
Position Wichtig ist, dass die unterschiedlich dichten und dicken Stellen richtig positioniert sind. Verlassen Sie sich bei der Wahl nicht auf den ersten Eindruck. Steigen Sie mit der Radhose auf Ihren Sattel und prüfen Sie in Fahrposition mit den Fingern, ob die beanspruchten Stellen auch vom Polster geschützt sind. Achtung: Das Polster sollte immer zum Abstand der Sitzknochen passen und mindestens ein bis zwei Zentimeter breiter sein.
Geschlechtsspezifisch Da der Damm- und Genitalbereich bei Männer und Frauen unterschiedlich aufgebaut ist, unterscheiden sich auch die Polster im Aufbau. Um die sensiblen Nervenbahnen zu entlasten, weisen Männerpolster im Dammbereich häufig eine Aussparung auf. Damenpolster dagegen werden im Genitalbereich gerne etwas weicher gepolstert. Vorsicht: Zu flauschig sollte der Schaumstoff auch hier nicht sein, ansonsten können Taubheitsgefühle auftreten.
Unterschiedliche Dichte Hochwertige Polster bestehen aus unterschiedlich dichten Schäumen, um bestimmte Körperstellen gezielt zu stützen: Dünn und straff gepolstert im Schambereich beugt es Reizungen in der Intimzone vor. Ein Entlastungssteg im Dammbereich kann Taubheitsgefühle verhindern, ein dickerer Schaum mit höherer Dichte im Bereich der Sitzbeinhöcker sitzt sich auch auf langen Strecken nicht so schnell durch.
Vorgeformt Von Polstern, die annähernd flach und starr in der Hose hängen, sollten Sie besser die Finger lassen. Nur, wenn das Sitzpolster bereits im hängenden Zustand an die Anatomie des Körpers vorgeformt ist, kann es sich im Sattel optimal und faltenfrei an den Träger anschmiegen und somit Scheuer- und Druckstellen vorbeugen.
Der richtige Schaum Die Dichte eines Schaumstoffs errechnet sich aus der Masse eines Körpers und seinem Volumen und wird in Kilogramm pro Kubikmeter (kg/m³) angegeben. Üblich sind Dichten von 40, 60, 80 und 120 kg/m³. Einige Hersteller geben die Schaumdichte ihrer Polster mit an. Lässt sich das Sitzpolster mit Daumen und Zeigefinger bereits komplett zusammendrücken, kann man davon ausgehen, dass es sich meist nach wenigen Kilometern durchsitzt.
Hohe Dichte, viele Zellen Weiche Schaumstoffe besitzen eine geringere Zahl an Zellen. Je fester der Schaum ist, desto mehr Zellen weist er auf. Ein Schaumstoff mit hoher Dichte lässt sich auch von einem höheren Gewicht nicht so leicht komprimieren und bietet so auch auf längeren Ausfahrten mehr Komfort, weil er Stöße und Vibrationen besser dämpfen kann.
Obermaterial Das Obermaterial des Sitzpolsters sollte vor allem eins sein: weich und nahtfrei. Ein weiches Mikrofasergewebe hilft dabei, die Reibung auf der Haut zu vermindern. Da schweißnasse Haut sehr empfindlich ist, muss das Gewebe Feuchtigkeit aufnehmen und nach außen abführen können. Achten Sie darauf, dass weder innen noch außen Nähte im Bereich des Sitzpolsters verlaufen.
Nach jeder Tour sollten Sie zumindest das Polster einmal auswaschen und danach zum Trocknen aufhängen. Ein feuchtes Sitzpolster bietet Bakterien und Pilzen einen optimalen Nährboden. Haben Sie sich auf einer langen Tour wundgerieben, können Bakterien schnell zu Entzündungen führen. Bekommen Sie leicht eine Blasenentzündung? Dann sollten Sie die Polsterpflege ernst nehmen. Ein spezieller Hygienespüler kann dabei helfen, Keime restlos aus dem Sitzpolster zu entfernen.
Per Hand Auch wenn die Radhose nicht nach jeder Fahrt in die Wäsche wandert: einmal gründlich mit warmem Wasser per Hand auswaschen, verhindert, dass aggressiver Schweiß die Fasern der Hose angreift. Auch Sitzcreme sollten Sie gar nicht erst im Polster eintrocknen lassen. Creme-Rückstände lassen sich nach mehreren Tagen nur noch schwer entfernen.
In der Maschine Richtig sauber wird es nur in der Waschmaschine. Drehen Sie die Hose zum Waschen auf links und wählen Sie den Schonwaschgang bei 30 bis 40 Grad. Viele Hersteller empfehlen spezielle Pflegeprodukte. Das muss aber nicht sein, wenn Sie ein paar Regeln befolgen: Verwenden Sie nur Flüssigwaschmittel. Verzichten Sie auf Vollwaschmittel mit Weichspüler und Bleichmittel. Auch zu hohe Schleudergänge können die Radhose schädigen, genauso wie raue Textilien oder Reißverschlüsse. Manche Hersteller legen ihren Hosen ein Wäschesäckchen bei. Das kann so genanntes Pilling verhindern.
Waschmittel Ein mildes Flüssigwaschmittel, wie das F100-Funktionswaschmittel von Dr. Wack (500 ml, 14,99 Euro), schont die Fasern und entfernt lästige Gerüche. Wichtig: Beachten Sie immer die Pflegehinweise des Herstellers im Etikett!
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